Eigentlich sollte es ja gerade ruhiger werden. Die Politiker und Gewerkschafter dieses Landes waren schon drauf und dran, sich geistig aus dem Alltagsgeschäft in die Sommerpause zu begeben, und die Journalisten sammelten Themen, die durch die Saure-Gurken-Zeit hinweghelfen sollten. Doch nun ist alles ganz anders und spannender, und es wird wieder mit Vehemenz um die Zukunft Deutschlands gestritten. Im September 2005 wird es vermutlich Neuwahlen geben, und bis dahin werden alle Lager ihre Vorstellungen davon, wie es mit dem deutschen Sozialstaat weitergehen soll, auf den Tisch legen müssen.
Man wird sich auf eine erbitterte Diskussion einstellen dürfen. Das traditionelle Bündnis von SPD und Gewerkschaften ist zerbrochen - gerade erst warnte IG-Metall-Chef Jürgen Peters Kanzler Schröder davor, mit der Agenda 2010 in den Wahlkampf zu ziehen. Auch Michael Sommer erklärte, der DGB werde keine Wahlempfehlung für Rot-Grün abgeben. Die Gräben zwischen der Arbeiterpartei und den Arbeitnehmervertretern sind nach der Auseinandersetzung um Hartz IV tief - und auch die Heuschrecken-Attacke des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering auf die Unternehmer konnte daran nichts ändern. Die Grünen müssen sich bei den Arbeitsmarktthemen erst Gehör verschaffen - und ein klares Profil entwickeln. Obwohl sie an der Idee der Tarifautonomie festhalten, klebt an ihnen in der Debatte um höhere Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger ungewollt das Etikett "Wirtschaftsliberalos".
Doch auch die Pläne von Schwarz-Gelb dürften den Gewerkschaften nicht schmecken. Die CDU schlägt - spätestens seit ihrem Sieg in Nordrhein-Westfalen - einen härteren Kurs in der Arbeitsmarktpolitk ein. Lockerungen des Kündigungsschutzes und Arbeitszeitverlängerungen sind Konzepte, mit denen die Union schon länger liebäugelt. Noch deutlicher werden die Liberalen: FDP-Chef Westerwelle würde den Einfluss der Gewerkschaften lieber heute als morgen radikal beschneiden - ganz im Sinne der Aufforderung des ehemaligen BDI-Chefs Michael Rogowski, man müsse "Lagerfeuer machen" und die Flächentarifverträge verbrennen. Beide haben der vermeintlichen "Verbändemacht" und dem vielzitierten "Tarifkartell" den Kampf angesagt.
Derart attackiert, sehen sich die Gewerkschaften als letztes Bollwerk gegen den menschenfeindlichen Raubtierkapitalismus. Sie halten weiter fest am Flächentarif, an Mindestlöhnen und am Kündigungsschutz. Berthold Huber sieht im "Diktat der Anteilseigner" eine bedrohliche Fehlentwicklung, die das System der sozialen Marktwirtschaft zerstöre - dennoch kommt der IG-Metall-Vize nicht daran vorbei, Abweichungen vom Flächentarif zuzulassen. Kann das Beharren der Gewerkschaften auf traditionellen Errungenschaften heute noch funktionieren - oder blockiert das nicht die Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen wollen? Führt der Verzicht auf Mitbestimmung zu mehr Sicherheit, gewährt durch gnädig gestimmte Konzernchefs?
Und wie steht es überhaupt um die Perspektive der Organisationen selbst, die antreten, die Zukunft dieser Republik zu retten? Noch immer haben die Gewerkschaften den Anspruch, politisch mitzugestalten - doch ihr Einfluss schwindet mit ihren Mitgliedern. Betriebsräte kämpfen oft an zwei Fronten: zum einen gegen Betriebsleitungen, die ihre Arbeiter mit Drohungen zu Zugeständnissen zwingen will, zum anderen gegen Belegschaften, denen es nicht um das große gewerkschaftliche Prinzip, sondern um einen sicheren Arbeitsplatz und ein vernünftiges Einkommen geht. Können Gewerkschaften überhaupt noch eine politische Rolle spielen - oder müssen sie sich künftig darauf beschränken, Dienstleister beim Aushandeln von Tarifen zu sein? Spannende Fragen in spannenden Zeiten. Ihnen will diese Ausgabe nachgehen.
Die Autorin ist Volontärin bei "Das Parlament".