Einst galt der Flächentarif als Friedensformel. Als "Verrat am Klassenkampf" geißelten dies manche Gewerkschafter, so ist es in Schriften von 1893 noch zu lesen. Zwanzig Jahre zuvor war von den Buchdruckern der erste echte Flächentarifvertrag in Deutschland abgeschlossen worden. Damals hatten nach erbitterten Streiks auch die Arbeitgeber Interesse an Ruhe im Betrieb; zudem schätzten sie es, dass einheitliche Löhne den Preiskampf mäßigten. Heute wird dies als "Tarifkartell" beschimpft: Gewerkschaften und auch manche Arbeitgeber wollten den allein heilsamen Wettbewerb einschränken, so die Grundsatzkritik. Zu starr, zu teuer, ein Zwangssystem sei der Flächentarif - das blockiere Jobs.
Dabei ist die Tarifautonomie besser als ihr Ruf. Sie hat die nötige Zunahme von Flexibilität nicht verhindert: In dem Schlüsselsektor Metallindustrie vereinbarten im vergangenen Jahr Arbeitgeber und Gewerkschaft im nun schon berühmten Vertrag von Pforzheim, dass Betriebe zur Beschäftigungssicherung vom Flächentarif abweichen dürfen, wenn auf beiden Seiten die Dachverbände zustimmen. Heute wird diese Regelung bereits von ungefähr jedem zehnten Unternehmen der Branche genutzt. Seit 1990 haben sogar mehr als 30 Prozent aller Betriebe einmal oder mehrfach Abweichungen vom Tarif vereinbart - nicht selten werden die Gewerkschaften hier mit der Ankündigung, gegebenenfalls die Fertigung ins billigere Ausland zu verlagern, im Betrieb heftig unter Druck gesetzt - davor bewahrt sie der nach Meinung seiner Gegner so mächtige Flächentarif längst nicht mehr.
Sogar ohne Einschnitte in die Tarifverträge gibt es Flexibilität: Mehr als zwei Drittel der Großkonzerne bezahlen ihre Mitarbeiter teilweise variabel, abhängig von Unternehmenserfolg oder persönlicher Leistung. Auch in den großen Krisenfällen, von Opel bis Karstadt, haben sich die Gewerkschaften letztlich nicht Einschnitten in die Besitzstände der Beschäftigten entgegen gestellt. Es gibt Ausnahmen, am meisten Aufsehen hat der Fall des Heiztechnik-Herstellers Viessmann erregt. Hier hatten Belegschaft und Chefs eine Ausweitung der Arbeitszeit von 35 auf 38 Wochenstunden verabredet. Im Gegenzug sollte statt eines Werkneubaus in Tschechien die Fertigung im heimischen Allendorf angesiedelt werden. Die Gewerkschaft stellte sich quer. Aber, das räumen hinter vorgehaltener Hand auch Arbeitgebervertreter ein, derlei zählt zu den nicht eben zahlreichen Einzelfällen.
Dennoch hält der Druck an, die Arbeitsbedingungen verstärkt im Betrieb statt auf Branchenebene zu bestimmen. Auslöser sind einerseits der gestiegene Wettbewerbsdruck, unter dem die Unternehmen stehen, andererseits die politische Überzeugung, Deregulierung bedeute Fortschritt. Die Gewerkschaften beginnen, auch wegen des unsicheren Wahlausgangs voraussichtlich im Herbst 2005, sich hierauf einzustellen. Die IG Metall in Nordrhein-Westfalen und im Bezirk Küste macht es vor. Statt immer nur zu reagieren, wollen hier die Arbeitnehmervertreter betriebsnahe Tarifpolitik offensiv nutzen. Ein Ziel ist dabei, Mitgliedern und potenziellen Mitgliedern konkret vor Augen zu führen, was ihnen die Gewerkschaft bringt. So soll an Rhein und Ruhr in jedem Betrieb, der aus dem Flächentarif ausschert, ein Gewerkschaftsbonus erzwungen werden: Die Mitglieder bekommen mehr Urlaubstage oder einen Aufschlag beim Weihnachtsgeld.
Diese Ungleichbehandlung soll den Schrumpfprozess der Gewerkschaften stoppen, der schon in wenigen Jahren ihre Existenz als Massenorganisationen in Frage stellen könnte. An der Küste sollen die Belegschaften über Abweichungen vom Tarif selbst entscheiden, damit sie bei Einschnitten nicht der Gewerkschaft die Schuld zuschieben; und damit sie, wenn sie die Abweichung zurückweisen, auch tatsächlich in den Arbeitskampf ziehen. Die alte Stellvertreterfunktion der Gewerkschaften, Ergebnis vor allem des Flächentarifs, löst sich hier und da auf. Interessanterweise reagieren die Arbeitgeber nicht unbedingt erfreut - deren Verband Gesamtmetall warnte bereits vor Spaltungstendenzen.
Aber sind die Flächentarife nicht einfach zu teuer? Tatsächlich ist das deutsche Lohnniveau im internationalen Vergleich hoch, auch wenn manche Arbeitnehmervertreter das gerne herunterspielen. Die Entgelte sind fünffach so hoch wie beispielsweise in Tschechien und auch spürbar höher als in Frankreich. Einen nennenswerten Anteil haben allerdings die Lohnnebenkosten; in anderen Ländern werden die Sozialsysteme stärker über Steuern finanziert, worüber nun auch hierzulande kontrovers diskutiert wird. Entscheidend für die Bewertung der Tarifautonomie aber ist: Der Anstieg der Entgelte ist in jüngster Zeit deutlich abgebremst worden, nachdem er bis Mitte der 90er aus Sicht der Ökonomen zu hoch war.
Die Löhne und Gehälter wuchsen im vergangenen Jahr im Durchschnitt nur um 1,3 Prozent. Ein Großteil hiervon wurde mit dem Abbau von übertariflichen Zulagen und dergleichen verrechnet, sodass bei den Beschäftigten noch weit weniger ankam. Die Lohnstückkosten sanken. Derzeit finanzieren großenteils die Arbeitnehmer die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland - nicht konfliktfrei, aber ohne Explosion des Tarifsystems. Hierfür haben, ungewöhnlich genug, selbst die Arbeitgeber öffentlich ihre Anerkennung ausgesprochen. Tarifautonomie trägt zur sozialen Stabilität bei - das ist ein Standortfaktor. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Zahl der Streiktage in Deutschland niedrig ist. Ein Ergebnis der viel geschmähten Konsenskultur: Hierzulande gingen seit 1990 jährlich im Schnitt zwölf Arbeitstage je 1.000 Beschäftigte verloren, im vermeintlichen Unternehmerparadies USA waren es 41, in Griechenland 300. Zwar liegt dies zum Teil auch an Gewerkschaftsstrategien, die mit wenig Streikenden viel Produktion lahm legen. Zum größeren Teil liegt die geringe Zahl der Streiktage aber daran, dass Flächentarife den Firmen kostenträchtige und das Betriebsklima übel belastende Häuserkämpfe ersparen.
Auch ein Zwangssystem kann der Flächentarif bislang nicht genannt werden. Es ist konstitutiv für die Tarifautonomie, dass Arbeitnehmer wie auch Unternehmens-Chefs selbst entscheiden können, ob sie der Gewerkschaft beziehungsweise dem Arbeitgeberverband beitreten. Nur dann delegieren sie ihre Verhandlungsmacht. So ist das Tarifsystem Marktmechanismen unterworfen: Überzeugt das Angebot nicht mehr, das die Tarifparteien ihrer Klientel jeweils machen, so kann diese - mit Verzögerung - aus dem System aussteigen. Eine Ausnahme bilden Verträge, die auf Antrag der Tarifparteien von der Regierung im Namen des öffentlichen Interesses für allgemeinverbindlich erklärt werden, wie es etwa im Baugewerbe der Fall ist - und wie es Rot-Grün mit dem neuen Entsendegesetz nun auch auf andere Branchen ausweiten will, um tarifliche Mindestlöhne einzuführen. Dieses neue Zwangselement ist überaus umstritten.
Auch in der Praxis, nicht nur in der Theorie, erweist sich die Tarifautonomie als System der Freiwilligkeit. Die Zahl der Mitglieder von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung wächst. Sogar der fatale Metallerstreik in Ostdeutschland um die Ausdehnung der 35-Stunden-Woche 2003 hat nicht gezeigt, was schlecht ist am Tarifsystem, sondern dass es funktioniert. Die Beschäftigten standen nicht hinter den von der Spitze verordneten Zielen, der Streik scheiterte spektakulär. Die Bosse in der Frankfurter IG-Metall-Zentrale konnten nichts erzwingen. Das Recht, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden" und auch Arbeitskämpfe zu führen, garantiert das Grundgesetz in Artikel 9. Diese Garantie aber laufe leer, wenn die Ergebnisse von Tarifverträgen betrieblich einfach unterlaufen werden können, so argumentiert etwa die seit diesem Frühjahr amtierende Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Wörtlich: Sonst seien sie das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Zwar teilen keineswegs alle Juristen diese Auffassung, aber sie ist im Arbeitsrecht seit langer Zeit die herrschende Meinung. Tatsächlich haben Betriebsräte im Gegensatz zu den Gewerkschaften eine eingeschränkte Regelungskompetenz, sie werden von den Arbeitgebern finanziert, und sie haben im Konfliktfall auch kein Streikrecht.
Der Streit um das Tarifsystem hat ungewollt einen interessanten Effekt. Er stärkt das System, weil es unter Reformdruck gerät - und sich verändert. Die Flächentarife müssen heute unterschiedliche Lösungen für gut gehende und für kriselnde Unternehmen bereit stellen. Denn nicht nur innerhalb einzelner Branchen wie Metall und Elektro, sondern sogar innerhalb einer klar abgegrenzten Industrie wie etwa der Automobilfertigung ist inzwischen die Lage von Betrieb zu Betrieb einfach zu verschieden. Und: Während mancher Mittelständler jeden Cent umdrehen muss, machen Dax-Unternehmen wie die Deutsche Bank Rekordgewinne. Deshalb tobt in Gewerkschaften wie der IG Metall die Debatte über differenzierte Lohnabschlüsse, die in einer zweiten Verhandlungsrunde oder nach festen betrieblichen Kennziffern in verschiedenen Unternehmen für die Beschäftigten unterschiedlich viel Geld bringen würde. Und deshalb wird viel nachgedacht über noch mehr Flexibilität durch Lebens-Arbeitszeit-Konten. Die Anpassung der Arbeitsbedingungen innerhalb des Systems der Tarifautonomie geschieht also. Das aber ist ein nie abgeschlossener Prozess.
Jonas Viering ist Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" in
München.