Im hohen Norden scheint das Schlaraffenland der Bildung zu liegen. Seit Finnland als klarer Sieger aus der internationalen PISA-Studie hervorging, gilt das kleine Land als Vorbild für ein erfolgreiches Schulsystem. Deutschland landete bei der Vergleichsstudie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bekanntermaßen nur im Mittelfeld. Was liegt also näher, als den Schlüssel für künftige eigene Erfolge in Finnland zu suchen. Tatsächlich pilgerten deutsche Politiker in den vergangenen Jahren eifrig nach Helsinki, um sich die dortigen Schulen genauer anzusehen. Doch mit der Suche nach Ideen in Skandinavien tauchte auch die Frage auf: Lässt sich das Schulsystem eines Fünf-Millionen-Volkes am Rande Europas überhaupt mit der 80 Millionen Einwohner zählenden Bundesrepublik vergleichen?
Es dürfte zwar kaum jemand ernsthaft glauben, dass sich ein Schulsystem eins zu eins übertragen lässt - doch Lehren lassen sich nach Überzeugung zahlreicher Experten durchaus ziehen. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck drückt es so aus: Deutschland könne sich von "einigen Leitgedanken" wie dem starken Augenmerk auf die jüngsten Schüler anregen lassen. Im Kern dreht sich die deutsche Debatte um das Vorbild Finnland aber um die Schulstruktur: Statt die Kinder wie in Deutschland nur vier Jahre gemeinsam in der Grundschule lernen zu lassen, bleiben die jungen Finnen nach einem von fast allen Kindern wahrgenommenen Vorschuljahr neun Jahre lang zusammen auf einer Gemeinschaftsschule. Erst danach müssen sie sich entscheiden, ob sie in einer dreijährigen gymnasialen Oberstufe das Abitur machen oder eine Berufsschule besuchen wollen.
Doch bis dahin lernen eben alle Kinder gemeinsam - egal, wie hoch oder niedrig ihr Leistungsniveau ist. Auch Sitzenbleiben gibt es in der Regel nicht. Für den Erziehungswissenschaftler Struck bedingt dies auch einen anderen Umgang der Lehrer mit den Kindern und Jugendlichen: Wenn man wisse, dass man einen Schüler nie wieder loswerde, stelle man sich auf ihn ein, sagt Struck. Anders in Deutschland: Kommt ein Schüler etwa auf dem Gymnasium nicht mehr mit, findet er sich womöglich bald auf der Realschule wieder. Dass dies in Finnland nicht geht, nennt der Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, Hans-Günter Rolff, einen "heilsamen Zwang". Die gerade in Deutschland stark verbreitete Meinung, dass unter diesen Umständen zwar die schwächeren Schüler profitieren, aber die guten unter ihren Möglichkeiten bleiben, hält der Wissenschaftler für falsch: Auch die besten fünf Prozent in Finnland seien besser als die deutschen Spitzenschüler. PISA habe gezeigt, dass von heterogenen Gruppen alle Kinder profitierten, sagt Rolff.
In Deutschland erscheint dies vielen Eltern vermutlich auch deshalb schwer vorstellbar, weil sie das Modell der deutschen Gesamtschule vor Augen haben. Dieser Vergleich hinkt allerdings: In Finnland gibt es nur Gesamtschulen, hierzulande haben Lehrer und Eltern aber die Wahl zwischen Hauptschule, Realschule, Gymnasium oder Gesamtschule. In Deutschland streiten nun die politischen Lager immer heftiger darum, ob nach skandinavischem Vorbild alle Schüler eine Gemeinschaftsschule besuchen sollen. Während sich bei der SPD entsprechende Forderungen mehren, hält die Union am bisherigen System fest.
Domisch, der Kenner des deutschen und finnischen Schulwesens, hält einen Systemwechsel für unumgänglich: Ohne eine andere Struktur werde in Deutschland nicht "der große Wurf" gelingen. Er räumt allerdings auch ein, dass dies nicht allein den Unterschied ausmache. Es gebe auch andere Länder mit einer Gesamtschule wie etwa Großbritannien, das aber dennoch in den Schulen auf Konkurrenz setze. Es müsse sich mit der anderen Struktur auch eine eigene Kultur entwickeln, sagt Domisch. Dazu zählt in Finnland etwa das umfangreiche Fördersystem an den dortigen Gemeinschaftsschulen, das zum Beispiel eine gezielte Förderung in Kleingruppen vorsieht. Den Pädagogen steht zudem mit Psychologen oder so genannten Kuratoren, eine Art Sozialarbeiter, ein ganzes Team von Helfern zur Seite. Nicht umsonst gilt Finnland besonders bei der Förderung und Integration von schwächeren Schülern als Vorbild. Ein weiteres Merkmal des finnischen Modells ist die stark ausgeprägte Schulautonomie. Zu dem System gehöre eine sehr starke Unabhängigkeit und Selbstverantwortung der Schulen, sagt Domisch, der vor seinem Wechsel zur finnischen Schulbehörde in Baden-Württemberg als Lehrer arbeitete.
Kennzeichnend für das in Finnland herrschende Schulklima ist auch, dass die Lehrer ein enorm hohes Ansehen genießen. Die Zahl der Bewerber für ein Lehramtsstudium übersteigt deutlich die Zahl der vorhandenen Plätze. Am Geld kann dies allerdings nicht liegen, da deutsche Pädagogen besser als ihre finnischen Kollegen verdienen. Domisch sieht das hohe Renommee der Lehrer in den eigenen Schulerfahrungen der Finnen begründet. Die Menschen hätten früher nicht die Erfahrung gemacht, dass Schüler von ihren Lehrern beschämt worden seien. In Deutschland berichteten Erwachsene dagegen immer wieder von negativen Erfahrungen in ihrer Schulzeit wie Beleidigung und Ausgrenzung, sagt Domisch.
Bleibt bei allem Lob für das finnische Modell die Frage, ob dies auch unter den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands den Weg aus der Krise weisen kann. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, bezweifelt dies. Finnland sei ein bisschen "zu einem Mythos hochstilisiert" worden, dabei bestünden dort völlig andere Rahmenbedingungen, sagt der Direktor eines bayerischen Gymnasiums. So ist ein Vergleich aus seiner Sicht schon deshalb schwer möglich, weil der Anteil von ausländischen Kindern in Finnland weitaus geringer ist. Es gebe also eine ausgesprochen homogene Schülerschaft, betont Kraus.
Diesen Unterschied kann auch die Schulexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, nicht wegdiskutieren. Sie gibt aber zu bedenken, dass die Einwohnerzahl und der Migrantenanteil Finnlands ziemlich genau denen von Sachsen entsprächen. "Dann müsste man also Sachsen und Finnland miteinander vergleichen - das Ergebnis würde für Sachsen nicht so toll ausfallen", argumentiert die Gewerkschafterin. Domisch weist zudem auf das spezielle Fördersystem für "Kinder mit anderer Muttersprache" in Finnland hin. Schon in der Vorschule erhielten sie 20 Stunden Finnisch-Unterricht pro Woche, um sie auf die erste Klasse vorzubereiten.
Kraus sieht aber noch weitere Unterschiede: In Finnland seien die Schulen geradezu "familiär", etwa die Hälfte von ihnen habe weniger als 50 Schüler, sagt der Schuldirektor mit Blick auf die weitaus höheren Zahlen an deutschen Schulen. Auch kulturelle Unterschiede müssen aus seiner Sicht berücksichtigt werden. Als Beispiel nennt er die "ausgeprägte Lesekultur" im Norden. Kraus führt dies unter anderem darauf zurück, dass die Finnen auf ihre Sprache sehr stolz seien. Der Pädagoge erinnert zudem daran, dass in Finnland ausländische Filme nicht synchronisiert, sondern mit finnischen Untertiteln ausgestrahlt werden. Die Folge liegt auf der Hand: Auch die Fernsehkinder wollen schnell Lesen lernen.
Doch auch Kraus streitet nicht ab, dass Deutschland von Finnland lernen kann. Vorbildhaft findet er beispielsweise die individuelle Förderung von Risikoschülern. Domisch glaubt natürlich erst recht, dass sich "eine ganze Menge" des finnischen Modells auf Deutschland übertragen lässt. Die lebhafte Diskussion um die Unterschiede zwischen den beiden Ländern erklärt er sich so: Um die Debatte in Deutschand zu entschärfen, "versteckt man sich auch hinter der Nicht-Vergleichbarkeit".