Für die Kinder in Frankreich beginnt der Schulalltag spätestens mit drei Jahren. Zwar herrscht wie in Deutschland Schulpflicht erst ab sechs, doch ist die ganztägige und kostenlose école maternelle mit ihren voll ausgebildeten Lehrerinnen und landesweit gültigen Lehrplänen ein derartiges Erfolgsmodell, dass nahezu alle kleinen Franzosen die Vorschule besuchen. Die Kleinen werden in drei Jahrgangsklassen spielerisch an die Regeln des Gemeinschaftslebens herangeführt, machen erste Erfahrungen mit Lesen, Schreiben und Rechnen. Defiziten von Kindern aus sozial schwachen Familien soll die maternelle früh gegensteuern. "Hier wird die Basis für Chancengleichheit gelegt", lobt der Koordinator der PISA-Studie bei der OECD, Andreas Schleicher: "In der vorschulischen Erziehung ist Frankreich vorbildlich."
Französische Eltern sehen die frühkindliche Betreuung ganz pragmatisch, ein Äquivalent für den deutschen Begriff "Rabenmutter" gibt es im Französischen nicht. Das vergleichsweise hervorragende Betreuungsangebot mit Krippen und Vorschule trägt dazu bei, dass die Geburtenrate in Frankreich bei 1,9 Kindern pro Frau liegt, gegenüber 1,3 in Deutschland. Inzwischen geht sogar schon jedes dritte Kind mit zwei Jahren in die maternelle - wichtigstes Zugangskriterium: Die Kleinen müssen trocken sein.
Schule in Frankreich war immer mehr als Lesen und Schreiben lernen. Mit dem Sieg der Republik Ende des 19. Jahrhunderts und der Trennung von Kirche und Staat 1905 wuchs der staatlichen und laizistischen Schule die Aufgabe zu, die Werte der Republik zu vermitteln und die kleinen Franzosen zu citoyens (Staatsbürgern) zu erziehen. Noch heute wird auch Wert gelegt auf Respekt, Disziplin und Höflichkeit. Die zuständige Behörde heißt bezeichnenderweise Ministère de l'éducation nationale, also Erziehungs- und nicht Bildungsministerium. Das Schulsystem soll maßgeblich zu égalité (Gleichheit) beitragen.
Dies ist eine Triebfeder der zahlreichen Reformen, die besonders von den Sozialisten in den 80er-Jahren vorangetrieben wurden. Doch bereits 1975 wurde unter dem bürgerlichen Präsidenten Giscard d'Estaing das collège unique geschaffen, eine vierjährige Gesamtschule, die sich der fünfjährigen Grundschule anschließt. Dort werden die Weichen gestellt für den Weg zum baccalauréat (Abitur) und der Lehre, die wegen der vorwiegend vollschulischen Berufsausbildung jedoch nur eine geringe Rolle spielt. Aussortiert wird später als in Deutschland, das System ist durchlässiger.
Der parteiübergreifende politische Wille, möglichst viele Schüler zur Hochschulreife zu führen, hat zu Erfolgen geführt. 2004 lag der Abiturientenanteil bei 61,7 Prozent, Mitte der 70er-Jahre waren es noch 25 Prozent. Der konservative Erziehungsminister Francois Fillon bekräftigt in seinem neuen Schulgesetz das Ziel, 80 Prozent eines Jahrgangs auf Abiturniveau zu führen. In Deutschland schafften 2003 dagegen nicht einmal 40 Prozent die Hochschul- oder Fachhochschulreife, wobei sich jedoch das deutsche Abitur und das umfassendere baccalauréat nur bedingt miteinander vergleichen lassen.
Mittagessen in der Schulkantine, Unterricht bis 17 Uhr: Das Prinzip der Ganztagsschule ist allgemein akzeptiert, auch von den Eltern, stellt jedoch an Kinder und Jugendliche in der Grundschule und im collège hohe Anforderungen. "Der Arbeitsrhythmus mit einem umfangreichen Wochenprogramm führt zu Schulstress", sagt Bildungsexperte Werner Zettelmeier vom Forschungszentrum CIRAC an der Universität Cergy-Pontoise. Zwar können sich die französischen Schüler zum Ausgleich über längere Ferien freuen. "In Deutschland ist das aber besser verteilt", betont der Wissenschaftler. Die Woche ist geprägt vom freien Mittwochnachmittag, dafür müssen die Schüler in der Regel samstagmorgens lernen.
Trotz aller Bemühungen spiegelt die Schule auch in Frankreich die sozialen Ungleichheiten. Die Hälfte der Jugendlichen, die ihre Schulkarriere mit den niedrigen Qualifikationen CAP oder BEP abschließen, die mit dem Facharbeiterbrief vergleichbar sind, stammen aus Familien von Arbeitern oder Erwerbslosen. Dagegen sind die Kinder von Freiberuflern überdurchschnittlich beim prestigeträchtigen allgemeinbildenden Abitur vertreten. Dieses bac général und das Technikerabitur (bac technologique) werden am lycée abgelegt, einer dreijährigen Gymnasialoberstufe, die vor zwei Jahrzehnten um das berufsbildende Abitur ergänzt wurde. Die Auslese über Auswahlprüfungen (concours) und die Elitenbildung findet an den Hochschulen ihren Höhepunkt, wo den Massenuniversitäten die Grandes Écoles gegenüberstehen, die noch immer den Königsweg in die Spitze von Wirtschaft, Verwaltung und Politik darstellen.
Auch im zentralistischen Frankreich ist Schule nicht gleich Schule. Viele Eltern versuchen mit allen Tricks, ihre Kinder auf Schulen in sozial gehobenen Vierteln zu schicken. Knapp 17 Prozent der Schüler besuchen private, hauptsächlich katholische Einrichtungen. OECD-Experte Schleicher bemängelt zudem, das streng hierarchische, auf das Ministerium in Paris zulaufende System lasse den 68.500 Schulen und 850.000 Lehrern zu wenig Freiräume. "Ziel ist ja nicht, das Gleiche zu tun, sondern das Gleiche zu erreichen." Wohl jeder deutsche Austauschschüler dürfte beim Besuch der französischen Partnerschule gestaunt haben, wie sehr dort noch auf Pauken und Frontalunterricht gesetzt wird. Die PISA-Studie habe gezeigt, dass sich der Unterricht zu sehr auf die Aneignung und Reproduktion von Fachwissen konzentriere, bestätigt Schleicher. "Die französischen Schüler wissen viel, können aber nicht so viel." Bei der Anwendung ihres Wissens und der Analyse schneiden sie vergleichsweise schlecht ab.
Derzeit stecken die französischen Schulen in einer Sinnkrise, die im Gegensatz zu Deutschland aber nichts mit den PISA-Ergebnissen zu tun hat. Die wachsende kulturelle Heterogenität lässt die "Schule der Republik" an ihre Grenze stoßen. Die Integrationspolitik ist in weiten Teilen gescheitert, in den Vorstädten haben sich Gettos gebildet. Die Gewalt an Schulen nimmt zu. Das viel diskutierte Kopftuchgesetz verbietet das Tragen auffälliger religiöser Zeichen nur an den öffentlichen Schulen, obgleich sich das Problem der "Parallelgesellschaften" allerorten stellt. "Die Schule soll dieses Problem in einer Art Stellvertreterkrieg lösen. Damit ist sie überfordert", konstatiert Zettelmeier.
Eineinhalb Jahrzehnte nach der letzten großen Reform nimmt die Regierung nun einen neuen Anlauf, die Chancengleichheit zu verbessern. Frankreich mit seiner hohen Jugendarbeitslosigkeit könne sich nicht damit abfinden, dass jährlich 150.000 Jugendliche ohne irgendeinen Abschluss bleiben. Die Schule soll künftig einen allgemein verbindlichen Bildungssockel vermitteln, die Lehrerausbildung verbessert werden. Eine geplante Reform des Abiturs zog der inzwischen abgelöste Erziehungsminister Fillon nach Massenprotesten der Schüler zurück.
Der Autor ist Redakteur bei der Nachrichtenagentur AP,
Frankfurt.