Mindestens jedes vierte deutsche Kind ist nachmittags mehr oder weniger auf sich allein gestellt und der zufälligen Beeinflussung der Clique, der Fußgängerzone, des Kaufhauses oder des multimedial vernetzten Kinderzimmers zwischen Fernseher, DVD-Player, Playstation, Computer und Handy überlassen. Kein Wunder also, dass die hierzulande bereits gestarteten Ganztagsschulen mehr Anmeldungen als Plätze haben. Sie können Lebensmittelpunkt junger Menschen werden, weil sie Zeit haben kompensatorisch ein Stück weit auszugleichen, was die Familie erzieherisch nicht hinbekommen hat.
Aber sie bieten Gefahren und Chancen: Wenn sie mit gleichzeitigem Sparen von Land und Kommune umgesetzt werden, missraten sie leicht zu Aufbewahrungsanstalten für Kinder von Eltern mit Abgabementalität. Wenn an das klassische Lernen am Vormittag zwischen Mathe, Deutsch und Physik bloß ein Pädagogischer Mittagstisch und mehrere musische, sportliche und technische Kurse nebst Hausaufgabenhilfe angehängt werden, werden die am Nachmittag liegenden Kurse abgewertet und das Lernen nicht sinnvoll rhythmisiert. Ein Eingriff in das Familienleben, wie von vielen Eltern befürchtet, müssen Ganztagsschulen aber nicht darstellen, denn selbst, wenn sie bis 17 Uhr dauern, beanspruchen sie nur etwa ein Viertel der Zeit, die eine Woche bietet.
Die Chance der Ganztagsschule besteht in der Rhythmisierung des Unterrichts: Nach einer anstrengenden Mathe-Stunde folgt eine Stunde Kunst, nach der anschließenden Französischstunde folgt eine Stunde Bewegungserziehung, und auch von 14.30 Uhr bis 16.00 Uhr lässt sich dann mit der zweiten Hochleistungsphase des Tages Chemie oder Latein unterrichten. Menschen und zumal Kinder benötigen für eine gute Leistungsfähigkeit den ständigen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, also einen rhythmisierten Tag.
Die Schweden und Finnen sagen deshalb: Jedes Kind braucht vier Pädagogen; die wichtigsten Lehrer sind die anderen Kinder, die zweitwichtigsten sind die Lehrer, die drittwichtigsten sind die Räume mit dem Interieur und der viertwichtigste Lehrer ist die Rhythmisierung. Lernen braucht Zeit, braucht Reden und Handeln, braucht Anwenden und Üben, braucht neben Bildung auch Erziehung und braucht einen gastgebenden Lernberater als Dienstleister, nicht aber einen Unterrichtsvollzugsbeamten in einer verlängerten Halbtagsschule.
Ganztagsschulen erlauben mehr Individualisierung, also ein besseres Eingehen auf die unebene Lernlandschaft im Kind und sein spezielles Lerntempo. Sie reduzieren daher das, was wir "niederlagenreiches Lernen" nennen. Mit Ganztagsschulen gewinnt Deutschland die Chance, Lernen allgemein so effizient zu machen, wie es die zurzeit beste deutsche Schule, die Bodenseeschule in Friedrichshafen, schafft: Sie ist eine katholische Grund- und Hauptschule mit Werkrealschule. Sie ist seit 1971 Ganztagsschule und arbeitet unter dem Motto Jean Jacques Rousseaus: "Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen."
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler, Hamburg.