In den ersten zehn Lebensjahren stehen die Lernfenster von Kindern besonders weit offen. Noch immer jedoch wird das hohe Bildungspotenzial in dieser Lebensphase unterschätzt und zu wenig genutzt. Was fehlt sind Steuerungsmodelle von ganz neuer Qualität, die nicht die einzelnen Institutionen in den Mittelpunkt rücken, sondern das einzelne Kind. Das Land Hessen will - als Reaktion auf internationale und nationale Entwicklungen - als erstes Bundesland diesen Weg einschlagen und hat einen Bildungs- und Erziehungsplan vorgelegt, der nicht nur den Orientierungsrahmen für die Bildung und Erziehung von Kindern von der Geburt bis zum Ende der Grundschule bieten soll.
Vielmehr wird der Versuch unternommen, bisherige Grenzen bei der Entwicklung von Bildungsplänen und der Organisation des Bildungsverlaufs in mehrfacher Sicht zu überwinden: Hessen entwickelt einen Bildungsplan von hoher Beständigkeit in den Bildungszielen, den Inhalten und im Bildungsverlauf, verbindet Angebote der Jugendhilfe mit Bildungsangeboten und bezieht alle Lernorte mit ein, in denen Bildung und Erziehung von Kindern stattfindet - von der Familie über die Tagesbetreuung bis zu den Spielgruppen. Weil gerade die Familie nicht zum Zaungast der Entwicklung werden darf, wird das Verhältnis zwischen Familie und Bildungsinstitution im Sinne einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft definiert.
Der Bildungsplan focussiert auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und auf die Moderierung kindlicher Lernprozesse. Kindertageseinrichtungen und Grundschulen werden aufgefordert, die gleichen Grundsätze und Prinzipien anzuwenden, wenn es um Bildung und Erziehung von Kindern geht. Somit wird die bisherige Auffassung zurückgewiesen, der zufolge die Tageseinrichtungen und die Grundschulen unterschiedlichen bildungstheoretischen und -philosophischen Grundsätzen folgen sollten. Die Kontinuität in den Bildungszielen wird durch die Konzentration auf die Kompetenzen des einzelnen Kindes und dessen Ressourcen erreicht sowie durch solche Kompetenzen, die ein verantwortungsvolles Handeln im sozialen Kontext ermöglichen. Es sind demnach dieselben Kompetenzen, die in unterschiedlichen Entwicklungsniveaus und in unterschiedlichen Lernorten zum Gegenstand von Bildung werden.
Die Stärkung lernmethodischer Fähigkeiten und die Entwicklung von Reorganisationskompetenz, die Kinder befähigt mit Veränderungen und Risikosituationen angemessen umzugehen, sind zentrale Aufgaben sowohl der Tageseinrichtungen als auch der Grundschulen. Neu im hessischen Bildungsplan ist auch die Orientierung von Bildungsinhalten an fünf Bildungsdimensionen sowie die Moderierung von Lernprozessen. Die Gestaltung von Lernprozessen erfährt eine Kontinuität vom Kindergarten in die Grundschule hinein. Auch die Fachkräfte werden verpflichtet, Kontinuität im Bildungsverlauf auf der prozessualen Ebene herzustellen. Es wird demnach eine Konsistenz auf prozessualer und philosophischer Grundlage angestrebt, und nicht wie bislang - nur - eine strukturell-organisatorische Verzahnung der beiden Bildungsbereiche.
Der Autor ist Professor an der Fakultät für
Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen und
zugleich Leiter des bayerischen Staatsinstituts für
Frühpädagogik. Er hat die Erziehungs- und
Bildungspläne für Bayern und Hessen ausgearbeitet.