Doch erst die TIMSS-Studie, ein Vorläufer der PISA-Studie, rüttelte Politik und Wissenschaft wach. TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) bescheinigte 1997 den Nachfahren von Einstein und Planck im internationalen Vergleich miserable Leistungen in Mathe, Physik und Chemie. Zwar konnten die deutschen Schüler Gleichungen leidlich lösen und chemische Formeln erklären. Sobald es aber um die Anwendung des Gelernten auf neue Situationen ankam, versagten sie kläglich. Ein Schock - lange vor PISA.
Als Reaktion auf die Befunde von TIMSS wurde 1998 ein überregionales Förderungsprogramm aufgelegt: Das BLK-Programm "Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts", kurz "SINUS" genannt. Die Federführung übernahm das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) an der Universität Kiel zusammen mit dem Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (ISB) in München .
Am SINUS-Modellversuch nahmen zunächst 180 der 39.000 Schulen aus fast allen Bundesländern teil, die in 30 Schulsets mit je einer Pilotschule und weiteren fünf Schulen aufgeteilt waren. Innerhalb dieser Schulsets wurden neue Unterrichtsmethoden und Materialien entwickelt und erprobt. Ziel des auf fünf Jahre angelegten Modellversuches war es, mathematisch-naturwissenschaftliche Aufgabenstellungen zu finden, die den Schülern vielfältige Möglichkeiten bieten, ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechend eigenständig zu lernen, das heißt sich aktiv mit dem Stoff auseinanderzusetzen, Wissen problemlösend zu erarbeiten und übend zu festigen. Wie das konkret aussieht, zeigten Schüler in Schleswig-Holstein. Auf die Frage: "Wie misst man mit einem Maßband die Höhe eines Baumes, der Schatten wirft?" entwickelten sie mehrere Lösungswege, schrieben mathematische Aufsätze, um Zusammenhänge zu verstehen, lernten auch durch ihre Fehler. Im Mittelpunkt des Unterrichts stand Beschreiben und Verstehen statt Formeln auswendig zu lernen. Manfred Prenzel, Direktor des für das SINUS-Programm zuständigen IPN in Kiel: "Es mag banal klingen, aber vielleicht ist das der größte Erfolg von SINUS: An Schulen wurde erstmals ausführlich über den Unterricht geredet, um ihn Stück für Stück zu verbessern." Die Fachlehrer wurden sich dadurch über Aufgaben, Prioritäten und Ziele ihres Unterrichtes klar. Und noch viel wichtiger: Aus klassischen "Einzelkämpfern" wurden pädagogische Teams.
Hunderte von Pädagogen krempeln seit SINUS ihren Unterricht um. Statt feste Lösungswege vorzugeben lassen sie die Schüler seitdem selbst knobeln und Kreativität entwickeln. Eingegriffen wird erst, wenn es nicht mehr weiter geht. Die Aufgaben sind aus dem Alltag der Schüler gegriffen und werden, sofern möglich, fächerübergreifend behandelt. Neuntklässler in Berlin erkunden am Beispiel des Fliegens physikalische Phänomene, studieren beim Bau eines Heißluftballons die Auswirkungen von Druck und Kraft, beobachten beim Ausflug in die Natur die Lebensweise von Vögeln und vergleichen deren Flug mit dem von Papierfliegern.
Der Erfolg dieser neuen Lehr- und Lernkultur blieb nicht aus. Das Interesse von Schülern an Mathematik und Naturwissenschaften und auch ihre Leistungen verbesserten sich, wie die Evaluation der beteiligten Institute zeigten. Selbst die Eltern sind begeistert. Kein Wunder also, dass viele Schulen inzwischen in ihren Schulprogrammen mit ihrer Teilnahme am SINUS-Projekt werben. Zudem änderte sich die grundlegende Einstellung der Lehrkräfte zum Lehren und Lernen. 2003 wurde deshalb das Folgeprojekt "SINUS-Transfer" gestartet, bei dem rund 1.000 Schulen mitmachen. Erfahrene SINUS-Lehrkräfte fungieren dabei als Fortbilder an der "neuen" Schule und bringen das Modell im Schneeballsystem durch die Republik. 2005 gab die Bund-Länder-Kommission (BLK) dann grünes Licht für die dritte Stufe, an der 4.000 Schulen teilnehmen.
Nachdem bislang nur Schulen der Sekundarstufe I beteiligt waren, also die Klassen fünf bis zehn der weiterführenden Schulen, wurde im August 2004 erstmals auch ein fünfjähriges SINUS-Transfer-Modell für die Grundschulen aufgelegt, an dem fast alle Bundesländer teilnehmen. Auch in den Klassen eins bis vier sollen künftig erste Zugänge zum naturwissenschaftlichen Denken und Arbeiten durch lebensweltbezogene Problemstellungen und Projekte zum Beobachten, Erkunden, Experimentieren ermöglicht werden. Langfristig, so das Ziel der Bildungsplaner, soll die neue Art Mathe und Naturwissenschaften zu unterrichten, alle deutschen Schulen erfassen.
Finanziert wird SINUS seit Beginn aus dem Bundeshaushalt. Allein für die zweite und dritte Stufe wurden 33 Millionen Euro bereit gestellt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert darüber hinaus auch andere Projekte, deren Hauptanliegen darin besteht, das naturwissenschaftliche Interesse von Kindern und Jugendlichen zu fördern und die Qualität des Unterrichts nachhaltig zu verbessern. Zum Beispiel das Projekt "Chemie im Kontext" (ChiK). Hierbei geht es ähnlich wie bei SINUS um die Einführung und Umsetzung innovativer Unterrichtskonzeptionen. Das Projekt Physik im Kontext (PiKo) wird ebenfalls vom BMBF für den Zeitraum 2003 bis 2006 finanziell gefördert und von einer Forschergruppe unter Federführung des IPN Kiel umgesetzt. Entwickelt, erprobt und evaluiert werden innovative Unterrichtskonzepte für unterschiedliche Schulstufen im Rahmen von kontextbasierten Zugängen zur Physik und zu modernen Technologien. PiKo will vor allem die Aufgeschlossenheit von Schülerinnen und Schülern gegenüber physikalischen und technischen Fragestellungen steigern und reagiert mit praxisorientierter Projektarbeit auf die Ergebnisse von Studien wie TIMSS und PISA.
Nur der Streit in der Förderalismuskommission über die Zuständigkeit in der Bildungsplanung könnte das Erfolgsmodell "SINUS & Co." noch gefährden. Einige Länder sehen die BLK-Modell als Einfallstor des Bundes in die Kulturhoheit der Länder.