Interview zur Situation der Waldorfschulen in Zeiten schulpolitischer Reformen mit Walter Hiller, Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen. Die Fragen stellte Oliver Schmale.
Das Parlament: Wie hat sich der Zulauf an die Waldorfschulen entwickelt?
Walter Hiller: Es gibt 189 Schulen im Bund der freien Waldorfschulen in Deutschland. Wir erleben eine verstärkte Nachfrage. Die Wartelisten sind länger, Interessenten kommen in größerer Zahl zu unseren Informationsveranstaltungen, aber so erfreulich das ist, so bedauerlich ist es, wenn wir viele Absagen erteilen müssen. Wir haben gegenwärtig etwa 80.000 Schüler. Die Kapazitäten sind nicht mal eben irgendwie und rasch erweiterbar, insofern sind diese Zahlen jährlich geringfügig aufgrund von Neugründungen und der noch im Aufbau befindlichen Schulen wachsend.
Das Parlament: Warum ist das Interesse an den Waldorfschulen so groß?
Walter Hiller: Ich glaube die PISA-Debatte hat mit sich gebracht, dass Eltern sich umfassender informieren und sich Gedanken darüber machen, was Bildung eigentlich ist, was den Kindern und Jugendlichen heute eigentlich mitgegeben werden muss. In einer sich rascher wandelnden Welt gewinnt die Frage nach den wirklich nachhaltigen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen an Bedeutung. Die Nachfrage in den neuen Bundesländern ist geringer. Das liegt an dem Rückgang der Geburten, der dort alle Schulen betrifft. Eine Folge davon ist auch eine durchschnittlich geringere Zahl von Schülern je Klasse.
Das Parlament: Wieviele Schüler hat eine Klasse? Das ist ja unter anderem ein Kritikpunkt.
Walter Hiller: Wir haben immer die große Klasse befürwortet. Es gibt heute noch Klassengrößen mit 36 und 38 Schülern. Allerdings muss dies im Zusammenhang gesehen werden mit unserer Art des Unterrichtens und unserer Stundenplanstruktur. Man kann also nicht einfach nur eine 38 Schüler umfassende Klasse mit einer Schulklasse in einer staatlichen Schule vergleichen.
Das Parlament: Warum nicht?
Walter Hiller: Unter den besonderen Bedingungen der Waldorfschulpraxis haben wir auch immer die große Klasse, die heterogen besetzte Klasse, mit Schülern unterschiedlicher Begabung und Herkunft gut gefunden. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Schüler sehr viel voneinander lernen. Je größer die Vielfalt, desto mehr.
Das Parlament: Bestätigt durch die guten PISA-Ergebnisse in Finnland. Wie wirkt sich die PISA-Diskussion in Deutschland aus?
Walter Hiller: Wir können uns in vielem durch das positive Abschneiden Finnlands bestätigt fühlen. Da ist zum Beispiel die relativ späte Einschulung. Dass man den Kindern ihre Kindheit vor dem schulischen organisierten Lernen lässt, dass man in Finnland erst im siebten Lebensjahr eingeschult wird. Das entspricht waldorfpädagogischen Grundsätzen. Dass man dann viele Jahre die Leitung einer Klasse durch eine Lehrkraft hat, was natürlich bedeutet, dass die Lehrkraft die Kinder wirklich kennen lernt. Dass man die Entwicklung der Kinder auch zum Teil mit therapeutischen Maßnahmen begleitet, damit sie wirklich Fuß fassen können und sich wirklich einbringen können in die Klasse. Das praktizieren wir an den Waldorfschulen auch mit den unterschiedlichsten Maßnahmen. Dann, dieses für Deutschland noch fast Undenkbare, den Verzicht auf die Notengebung, den Verzicht auf das Sitzenbleiben. Das ist an den Waldorfschulen seit eh und je Praxis und wurde früher eher als kurios beschmunzelt, heute durch das gute Abschneiden von Finnland, aber auch durch andere Diskussionen, die mittlerweile in der Gesellschaft statt finden, ist Sitzenbleiben ein ernsthaft diskutiertes und kritisiertes Element. Der langjährig beieinander bleibende Klassenverband, eben auch die Betonung des Umstandes, dass Kinder voneinander und miteinander lernen und nicht nur vom Lehrer angeregt sich irgendwelches Wissen aufpacken. Da sind viele Elemente des finnischen Schulwesens, des skandinavischen kann man auch in vielem sagen, die bei uns immer schon eine Rolle spielten. Das nehmen Eltern wahr und das überzeugt.
Das Parlament: Und wie wirkt sich die zunehmend frühere Einschulung aus?
Walter Hiller: Dieses ?früher“ und ?schneller“ halten wir auch für eine Tendenz, die wenig geeignet ist, Kinder und vor allem Jugendliche in der ganzen Breite ihrer Fähigkeiten zu fördern oder eben Schwächen aufzugreifen und auszugleichen, die der Einzelne mitbringt. Die ganze Tempo-Diskussion steht in krassem Widerspruch zu dem, was man heute auch fordert, dass ?Entschleunigung“ stattfinden möge, dass wir, weil die Zeit so hektisch ist, gerade auch im schulischen, Muße finden sollten.
Das Parlament: Müssen Sie Abstriche im Zusammenhang mit dem Einzug der modernen Technologie an der Pädagogik machen?
Walter Hiller: Nein. Wir müssen nur die Vorgabe erweitern. Rudolf Steiner war damals der festen Überzeugung, dass in der Schule Kenntnisse vermittelt werden sollten, die jedem, der diese Schule durchläuft, ein Grundverständnis auch der abstrakten oder der komplizierten technischen Vorgänge ermöglicht. Zu seiner Zeit hat er gefordert, dass jeder Schüler verstehen könne, wie ein Telefon funktioniert. Es ist unsere Aufgabe, das zu übertragen auf die Technologien, die uns heute umgeben, und dazu gehört ein Computer und weiteres. Das ist eine ausgesprochen waldorfspezifische Herausforderung für unsere Lehrkräfte, up to date zu sein.
Das Parlament: Wie sieht denn die staatliche Unterstützung der Waldorfschulen aus?
Walter Hiller: Das ist ein schwieriges, leidvolles Thema, weil die Schulen in freier Trägerschaft in den 16 Bundesländern je verschieden finanzielle Unterstützung erhalten, die unserem Verständnis nach dem Sinn des Grundgesetzes und der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht entspricht. Die Vergleichbarkeit der Aufwendungen für den Schüler einer staatlichen und einer nichtstaatlichen Schule mit abweichendem Profil ist ein komplizierter Sachverhalt. Wenn der Staat von Kosten pro Schüler spricht, sind darin zum Beispiel weder die Bau- und Finanzierungskosten für die Gebäude noch die zukünftigen Pensionen enthalten. Würden die Kosten betriebswirtschaftlich ermittelt, käme man auch uns gegenüber zu ganz anderen Schlüsselzahlen, die wiederum eine deutlich höhere Bezuschussung bedeuteten. Diesen Sachverhalt haben wir jüngst durch Gutachten eines unabhängigen Instituts bestätigt bekommen.
Das Parlament: Welche Rolle wollen die privaten Waldorf-Schulen denn im deutschen Bildungssystem in Zukunft spielen?
Walter Hiller: Wir haben keinen anderen Anspruch als ein selbstverständlicher Bestandteil im öffentlichen Bildungswesen zu sein. Wir sehen uns als Ausdruck der Vielfalt im Bildungswesen und sehen uns damit auch im Rahmen unserer Verfassung und möchten wie andere Schulen in freier Trägerschaft dazu beitragen, dass Eltern ihrem Grundrecht auf Wahlfreiheit hinsichtlich der Schule auch genügend Angebote haben. Wir wollen keine Sonderrolle, sondern erwarten, wie andere Schulen behandelt zu werden in fruchtbarer Konkurrenz zu den übrigen Anbietern von Allgemeinbildung.
Das Parlament: Was ist denn Ihr Traum, den Sie noch verwirklichen wollen?
Walter Hiller: Einen Schulabschluss, der stärker als bisher auch das Spezifische unseres Schulprofils berücksichtigt. Da die Waldorfschulen europaweit sehr einheitlich strukturiert sind, kann man diese Vision sogar europaweit denken. Es gibt einen Arbeitskreis, der sich damit befasst, wie dieser Abschluss aussehen könnte, der selbstverständlich gesellschaftlich-rechtliche Anerkennung findet und andererseits Elemente der Waldorfpädagogik berücksichtigt. Das wird ein weiter, langer und steiniger Weg, denn das Abitur hat schon eine seltene Weihe in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern. Interessanterweise haben wir schon sehr aufgeschlossene Partner aus der Industrie, dem Hochschulbereich und sogar aus Ministerien für dieses Projekt gefunden.