Hartz IV
Die Sozialgerichte sollen entlastet werden. Geht das ohne Verkürzung des Rechtsschutzes?
Hartz IV ist ein riesiges Beschäftigungsprogramm -jedenfalls für die Sozialgerichte. Auch drei Jahre nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (Alg II) reißt die Klageflut nicht ab: Allein im vergangenen Jahr wurden laut Bundessozialgericht (BSG) rund 136.000 neue Hartz-IV-Verfahren in erster Instanz bei den Sozialgerichten eingereicht - fast 40 Prozent mehr als noch im Jahr 2006. Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf ( 16/7716) vorgelegt, mit dem die Sozialgerichte entlastet werden sollen.
Bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am 11. Februar äußerten die Sachverständigen weitgehend Verständnis für das Anliegen. Gleichwohl drangen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Sozialverband VdK darauf, die "Waffengleichheit" von Klägern gegen die Verwaltungsträger zu bewahren. Diese sei etwa dadurch gewährleistet, dass das Gericht auf Antrag des Betroffenen einen von ihm bestimmten Arzt als Sachverständigen anhören muss.
Mit Inkrafttreten der Reform Anfang 2005 wurde die Sozialgerichtsbarkeit mit Verfahren zum Alg II betraut. Zudem wurden die gerichtlichen Zuständigkeiten für die Sozialhilfe und das Asylbewerberleistungsrecht von der Verwaltungs- auf die Sozialgerichtsbarkeit übertragen.
In den Verfahren geht es oft um Beträge von weniger als 10 Euro. Nicht viel, doch für die Betroffenen, die in der Regel jeden Cent umdrehen müssen, genug, um vor Gericht zu ziehen. Das geht relativ problemlos, da die Verfahren vor den Sozialgerichten für die Betroffenen kostenfrei sind. Typische Themen, mit denen sich die Sozialgerichte befassen, sind die Angemessenheit der eigenen Wohnung, die vermeintlich falsche Berechnung von Zuschüssen, die Anrechnung von zusätzlichem Einkommen und die Kürzung der Bezüge, aber auch Beihilfen zu Klassenfahrten der Kinder.
Um die Klagen in den Griff zu bekommen, ist die Zahl der Richterstellen in der ersten Instanz von Ende 2004 bis Ende 2007 von 837 auf 1.072 erhöht worden, bei den Landessozialgerichten von 345 auf 378, wie der Richter am Bundessozialgericht, Professor Rainer Schlegel, in der Anhörung darlegte.
Der Gesetzentwurf der Regierung setzt an anderer Stelle an. Er hat zum Ziel, die Verfahren zu straffen. Unter anderem sollen die inhaltlichen und zeitlichen Anforderungen an die Mitwirkung der Prozessbeteiligten verschärft werden. Geplant ist etwa, dass eine Klage als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren auch drei Monate nach Aufforderung nicht betreibt.
Ferner soll das Sozialgericht bei mehr als 20 Verfahren, die die gleiche behördliche Maßnahme betreffen, einen Musterprozess ansetzen dürfen und dann über die einzelnen Verfahren durch Beschluss entscheiden, wenn es keine wesentlichen Unterschiede zum Musterprozess gibt. Für Landessozialgerichte soll ferner eine erstinstanzliche Zuständigkeit für Verfahren eingeführt werden, die übergeordnete Bedeutung haben und in denen die Sozialgerichte keine endgültig Streit schlichtende Instanz darstellen. Außerdem ist vorgesehen, den Schwellenwert zur Berufung für natürliche Personen auf 750 Euro und für juristische Personen auf 10.000 Euro zu erhöhen.
Die Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages, Monika Paulat, erwartet, dass von den geplanten Neuregelungen eine Entlastungswirkung ausgehen werde. "In welchem Umfang? Das muss man sehen", fügte sie vorsichtig hinzu. Auch Professor Schlegel geht davon aus, dass das Gesetz die Gerichte entlasten werde, "vor allem im Berufungsverfahren, wenn die Berufungssumme von 500 Euro auf 750 Euro heraufgesetzt wird". Viele Streitsachen aus den Rechtsgebieten Hartz IV und Sozialhilfe würden nach der Neuregelung nicht mehr berufungsfähig sein, "weil in der Regel nicht über die Leistung im Block gestritten wird, sondern um Zusatzleistungen". Die Landessozialgerichte würden dadurch entlastet, so der Bundessozialrichter, "allerdings werden die Prozesse vermutlich dann in der ersten Instanz umso härter geführt", weil die Kläger wüssten, dass ihnen keine zweite Instanz zur Verfügung steht.
Die Erhöhung der Berufungssumme - zunächst waren 1.000 Euro im Gespräch - entpuppte sich in der Anhörung als einer der Knackpunkte. Paulat sagte, der Deutsche Sozialgerichtstag befürworte "in Anlehnung an die Arbeitsgerichtsbarkeit" einen Berufungswert von 600 Euro. Dieser Forderung schloss sich DGB-Sozialrechtsexpertin Renate Gabke an. Dagegen sagte der Leiter der Bundesrechtsabteilung des Sozialverbands VdK Deutschland, Gerhard Helas, die geplante Anhebung auf 750 Euro könne insbesondere für Alg-II-Empfänger zu Härten führen. Die bisherige Schwelle von 500 Euro sei ausreichend.
Allgemeiner formulierte das Bundesvorstandsmitglied der Neuen Richtervereinigung, Jens Heise, seine Kritik. Der Richter am Sozialgericht Berlin sagte, die Entlastung der Gerichte werde auf dem Rücken der Bürger ausgetragen, weil mit dem Gesetzentwurf eine "Verkürzung des Rechtsschutzes" einhergehe. Der Flut an Klagen aufgrund von Hartz IV dürfe nicht durch eine Verfahrensverschärfung für die Bürger begegnet werden. Vielmehr müsse es eine weitere Personalverstärkung geben, unterstrich Heise.
Auch Schlegel richtete an die Abgeordneten eine grundsätzliche Warnung. Es wäre fatal, sagte er, wenn die Bürger den Eindruck gewönnen, dass sich der Gesetzgeber die "materiellen Einschnitte ins soziale Netz dadurch erleichtert, dass ein Rechtsschutz beschränkt und erschwert wird, so dass man diese Einschnitte rechtlich nur noch unter erhöhten Anstrengungen überprüfen lassen darf". Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den Gesetzentwurf am kommenden Mittwoch zur weiteren Beratung auf der Tagesordnung.