PARLAMENTSARCHIV
Verstaubte Akten - das war einmal. Immer mehr wird digital archiviert. Der Bundestag hat das erste Konzept in Deutschland dafür entwickelt.
Das Archiv: lange Regalfluchten in dunklen Kellern, hohe Papierstapel mit verstaubten Akten, tonnenweise Dinge, nach denen nie wieder gefragt wird. Der Archivar: graues Gesicht, gebeugter Rücken, unauffällige Kleider. Im schummrigen Licht flackernder Deckenleuchten beschriftet er Karteikarten, schleppt Akten, sortiert Papier. Eine Sisyphos-Arbeit.
Wenn Angela Ullmann mit solchen Klischees konfrontiert wird, muss sie schmunzeln. Genauso wenig wie diese der modernen Archivarbeit entsprechen, hat sie Ähnlichkeit mit einem Archivar, wie man ihn sich landläufig vorstellen würde. Die 35-Jährige trägt einen taillierten Blazer und die hellblonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, als sie schwungvoll die Tür zu ihrem Büro öffnet. Auch dies hat wenig mit einem stereotypen Archivarbeitsplatz zu tun: Hell ist der Raum, mit Fenstern, die sich über seine gesamte Breite erstrecken, vom Boden bis zur Decke. Vom Schreibtisch aus hat man einen direkten Blick auf Reichstagskuppel und Spree.
Spätestens jetzt ist klar, dass Ullmann einen besonderen Arbeitsplatz hat: Die gebürtige Berlinerin ist Archivarin im Deutschen Bundestag, leitet dort den Bereich Audivisuelle Medien des Parlamentsarchivs. Damit ist sie eine von insgesamt 30 Mitarbeitern, die dafür sorgen, dass im Bundestag nichts vergessen oder verloren geht. "Nicht nur für Menschen ist Erinnerung wichtig", sagt Ullmann, "sondern auch für Institutionen und Staaten." Diese Aufgabe der Erinnerung übernehmen Archive, aber auch Bibliotheken und Museen.
Das Gedächtnis des Bundestags ist das Parlamentsarchiv. Hier werden Kenntnisse, Entwicklungen und Erfahrungen gespeichert, die sich in Dokumenten, Akten, Tönen und Bildern verbergen - ob nun auf Papier, Ton- und Videobändern oder aber in Form digitaler Medien. Ullmann und die anderen Archivmitarbeiter sind dafür verantwortlich, dass das Gedächtnis des Parlaments keine Lücken bekommt. Oder besser gesagt: Keine gravierenden Lücken. Denn alles aufzuheben, was in Schrift, Bild und Ton im Parlament entsteht, ist wohl weder möglich - noch sinnvoll. Die Archivare sind daher immer wieder gezwungen, schwierige Entscheidungen zu fällen: Wie trennt man Wichtiges von Unwichtigem? Wie filtert man aus der schier ungeheuren Flut von Informationen Bewahrenswertes heraus? Eine Mammutaufgabe.
Ullmann und ihre Kollegen benutzen deswegen den so genannten "Aktenplan", den das Parlamentsarchiv mit erarbeitet hat. Seit 2003 in Anwendung, ist er ein Leitfaden für Verwaltungsmitarbeiter, nach dem die Akten schon dort, wo sie entstehen, vorsortiert werden können. Während etwa mit "V" gekennzeichnete Akten nach Ablauf eines Jahres vernichtet werden können, zeigt die Markierung mit "A" den Verbleib im Archiv an, ein "B" bedeutet hingegen: Verwahrung unter Vorbehalt. Doch trotz dieser Auswahl gelangen noch immer jährlich rund 350 Meter Akten ins Parlamentsarchiv. Der größte Schwung trifft in der Regel nach Ablauf einer Wahlperiode im Archiv ein. "Dann machen die meisten Ausschüsse Tabula rasa", erklärt Ullmann. Dass das einen Haufen Arbeit bedeutet, versteht sich von selbst. Doch sie bleibt gelassen: "Das ist eben das Prinzip Archiv", sagt sie und lacht, "man schiebt immer einen Berg vor sich her." Wie Sisyphos - in dieser Hinsicht gleichen sich wohl doch Vorstellung und Wirklichkeit des Archivalltags.
In den Jahren seit seinem Bestehen hat auch manches wertvolle Dokument seinen Platz im Parlamentsarchiv gefunden. Da seine Wurzeln noch auf die Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik zurückgehen, befinden sich unter den gesammelten Unterlagen Bestände aus der Zeit vor der konstituierenden Sitzung des ersten Deutschen Bundestages vor fast 60 Jahren, im September 1949. Seitdem ist das Archiv deutlich gewachsen: Es beherbergt heute 12.000 Meter Akten, etwa 7.100 Gesetzesdokumentationen, 11.000 Ton- und Videobänder beziehungsweise -kassetten sowie 90.000 Bilder. In Bonn waren diese Bestände noch auf etwa 40 Magazinräume in acht Gebäuden und zwei Stadtteilen verteilt. Der Umzug ins Marie-Elisabeth-Lüders-Haus in Berlin, das eigens für Bibliothek, Pressedokumentation und Archiv schräg gegenüber des Reichstagsgebäudes neu erbaut wurde, bedeutete zwar 2004 für alle Mitarbeiter eine ungeheure logistische Herausforderung. Doch er bescherte dem Archiv zumindest endlich genügend Platz unter einem Dach. Heute verfügt es über drei große Magazinräume mit einer Gesamtfläche von 2.000 Quadratmetern.
Zudem bot der Umzug die Chance, endlich einen Überblick über die Bestände zu bekommen. "Wir waren gezwungen, alles zu systematisieren - vorher hatten wir nämlich weder ein richtiges Verzeichnis noch einen korrekten Lageplan", erzählt Ullmann. Auch sortierte so mancher Archivar damals die Akten nach persönlichem Gusto: Ob von unten links nach oben rechts oder umgekehrt - in Bonn war dies nicht einheitlich geregelt. In Berlin undenkbar. Für die Archivarin Ullmann ist Ordnung im Archiv schließlich zwingend: "Einmal verstellt findet man doch nie etwas wieder!"
Die größte Herausforderung war für sie und die anderen Archivmitarbeiter die digitale Revolution. Die Nutzung des Internets sowie digitaler Medien und Geräte machte schließlich nicht vor dem Bundestag halt - und stellte das Parlamentsarchiv vor neue Probleme. Seit der 15. Wahlperiode, also seit 2002, wird im Bundestag fast ausschließlich digital fotografiert. Doch wie diese Bilder am besten archiviert werden sollten, war zunächst unklar. Kein Wunder. 14 Wahlperioden lang wurde analog fotografiert - und Papierabzüge, Negative und Dias ließen sich relativ einfach aufbewahren. Im Bundestag werden dafür bis heute so genannte Rotomaten verwendet. Das sind Archivschränke, in denen sich Paternoster verbergen, durch die sich die Hängeregister mit den gefüllten Fotomappen bewegen lassen. Doch wie digitale Fotos sicher ohne Datenverlust speichern? Welches Format und welche Auflösung verwenden? "Es gab kein anderes Archiv, das schon Erfahrung im Aufbau einer digitalen Bilddatenbank hatte, auf die wir zurückgreifen konnten", erinnert sich Ullmann, "wir waren die Ersten". Sie mussten sich also etwas einfallen lassen. Offenbar erfolgreich: Heute nutzen andere Archive gern die Expertise der Berliner.
Pionierarbeit haben Ullmann und andere Mitarbeiter des Archivs sowie der Informationstechnologie im Bundestag aber auch auf anderen Feldern geleistet: Seit 2003 steht das Konzept für die Archivierung elektronischer Akten, seit 2004 verfügt der Bundestag zudem über ein Webarchiv. In dieser Online-Datenbank werden kontinuierlich die parlamentarischen Internetangebote - Texte, Bilder und sogar Links - gespeichert und so für jedermann ganz einfach per Mausklick zur Verfügung gestellt.
Doch es gibt noch viel mehr zu tun: Seit 2006 hat das Parlamentsarchiv damit begonnen, Ton- und Videobänder wie die Mitschnitte von Bundestagsdebatten zu digitalisieren, um sie so langfristig zu sichern. Ein aufwändiges Unterfangen - für das außerdem erst einmal Qualitätsstandards definiert werden mussten: welchen Aufzeichnungsträger wählen, welche Auflösung? Wie Fehler beim Überspielen vermeiden? Archivare bewegen sich auch hier auf neuen Pfaden. Doch gerade das reizt Angela Ullmann: "Dieser Umbruch im Archivwesen ist eine Chance! Wir müssen uns nun mit anderen, wie etwa IT-Experten, vernetzen - können dabei auch zeigen, wie wir arbeiten und was wir können." Die Zeit der Arbeit im Verborgenen ist für Archivare nun end- gültig vorbei.