EU-Lateinamerika-Gipfel
Am 16. Mai treffen sich 60 Staats- und Regierungschefs in Peru. Die Erwartungen sind gedämpft
Sao Paulo - Schon von weitem ist die Skulptur der ausgestreckten Hand von Oscar Niemeyer zu sehen. Acht Meter erstreckt sich der Beton vor dem Memorial America Latina in Sao Paulo in den Himmel. Die Handfläche ist blutig, rot gefärbt in den Umrissen des Kontinents. Das 1989 von dem brasilianischen Stararchitekten geschaffene Denkmal symbolisiert nichts Geringeres als den mehr als 500 Jahre währenden Kampf der lateinamerikanischen Völker für ihre Unabhängigkeit.
Ende der 80er-Jahre hatten Länder wie Chile, Brasilien, Argentinien oder Paraguay die Militärdiktatur überwunden und waren auf dem Weg zurück zur Demokratie. Jetzt, knapp 30 Jahre später, ist Lateinamerika erstarkt. Die Wirtschaft boomt in fast allen Ländern. Durchschnittlich werden sechs Prozent Wachstum erwartet. Auch außenpolitisch will der Kontinent mit starker Stimme mitreden.
Das neue Selbstbewusstsein der Lateinamerikaner werden die Europäer beim fünften EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima zu spüren bekommen. Am 16. und 17. Mai treffen 60 Staats- und Regierungschefs beider Kontinente im Nationalmuseum in Perus Hauptstadt. Als wichtigste Themen stehen gemeinsame Anstrengungen für den Klimaschutz und die Armutsbekämpfung auf der Tagesordnung. Am Ende der Beratungen soll, wie in den Jahren zuvor, ein gemeinsames Schlussdokument verabschiedet werden.
Beobachter erwarten allerdings keine verbindlichen Vereinbarungen des hochrangig besetzten Gipfels. Auch bei den vorangegangen Treffen seien die Ergebnisse wenig konkret gewesen, sagt Wilhelm Hofmeister von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rio de Janeiro. "Bei näherer Betrachtung haben sich deshalb auch die Erwartungen abgeschliffen." Viel zu oft werde der Begriff einer "strategischen Partnerschaft" verwendet, ohne dass dieser mit Inhalt gefüllt werde, meint Hofmeister.
Noch deutlicher äußert sich der SPD-Abgeordnete im Bundestag und Lateinamerika-Beauftragte seiner Fraktion, Lothar Mark. Nichts als "Lippenbekenntnisse" seien die Beteuerungen, Lateinamerika werde für Europa immer wichtiger, klagt er. "In der Realpolitik hat es keinen Fortschritt gegeben."
Dennoch, auch darin sind sich alle Kritiker einig: Allein schon wegen des in den vergangenen Jahren zurückgegangenen Interesses an der Region sind Treffen auf höchster Ebene von großer Bedeutung.
Das erste Mammutereignis fand 1999 statt. Damals hatten der brasilianische Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso und der damalige EU-Ratspräsident Gerhard Schröder nach Rio geladen. 2002 trafen sich die Staatschefs in Madrid, 2004 im mexikanischen Guadalajara und 2006 in Wien. Handfestes ist bei den Treffen noch nie herausgekommen. Vielmehr geht es um globale Fragen der wirtschaftlichen Kooperation, die Außenbeziehungen und die soziale Problematik.
Der oft blumig gebrauchte Begriff einer "strategischen Partnerschaft" sollte mit Leben erfüllt werden. Der Traum einer großen Freihandelszone mit mehr als 550 Millionen Lateinamerikanern und rund 450 Millionen Europäern scheint jedoch weiter entfernt denn je.
Stattdessen regiert auf beiden Seiten des Atlantiks der Protektionismus. Nach dem zähen Ringen um ein Abkommen mit dem Mercosur-Verband, ein Binnenmarkt, der Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Venezuela als assoziiertes Mitglied umfasst, und der Andengemeinschaft, in der sich Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien zusammengeschlossen haben, setzen allen voran die USA und auch die Europäer zunehmend auf bilaterale Abkommen.
Die Einseitigkeit der Beziehungen schlägt sich auch im Außenhandel nieder: Während das Handelsvolumen Lateinamerikas in die EU nahezu 20 Prozent ausmacht, liegt es umgekehrt bei nur vier Prozent - und ist damit geringer als das der Schweiz.
Besonders spannend dürfte auch diesmal der Auftritt der Gipfel-"Neulinge" in Lima sein. Erstmals wird Kuba durch Raúl Castro vertreten sein, und es ist auch der erste große Auftritt des international unbekannten Staatschefs auf großem Parkett. Allerdings wird die Kuba-Politik maximal in bilateralen Gesprächen am Rande des Gipfels eine Rolle spielen. "Innerhalb der EU gibt es noch eine große Diskrepanz über den zukünftigen Umgang mit Kuba", sagt Hofmeister. Während Spanien für einen neuen Dialog mit der politischen Führung auf der Karibikinsel plädiert, wollen Großbritannien und ehemalige Ostblock-Länder wie Tschechien den bisherigen Kurs fortführen.
Mit einer Reihe von Reformen wie dem Zulassen privater Mobiltelefone und von Computern versucht Raúl Castro eine vorsichtige Öffnungspolitik. Auch wenn Kuba "über Nacht" keine Demokratie geworden sei, dürfe die Öffnungspolitik nicht kleingeredet werden, mahnte deshalb Außenminister Frank-Walter Steinmeier jüngst. Auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz, betont: "Wir sind zum Dialog bereit, wenn sich in Kuba was ändert." Er fordert eine formelle Aufhebung des Handelsembargos. Für die Union sind die bisherigen Reformen auf der Karibikinsel allerdings nicht ausreichend. Sie fordert als Signal unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen.
Auch Argentiniens linksperonistische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, der französische Staatschef Nicolas Sarkozy und sein britischer Amtskollege Gordon Brown haben in Lima Premiere. Sarkozy hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit vor einem Jahr mit seinem Einsatz für die Freilassung der seit sechs Jahren von der kolumbianischen Guerilla Farc inhaftieren Ingrid Betancourt Engagement für den Kontinent gezeigt.
Als Garant für wortgewaltige Auftritte auf internationalem Parkett gilt Venezuelas linkspopulistischer Präsident Hugo Chávez. Der selbsternannte Führer der bolivarischen Revolution weiß die mediale Öffentlichkeit immer lautstark für sich zu nutzen. So beschimpfte er in der UN-Vollversammlung US-Präsident George W. Bush als "Teufel" und lässt auch sonst keine Gelegenheit ungenutzt, um gegen "Kapitalismus und Neoliberalismus" zu Felde zu ziehen.
1998 leitete der Wahlsieg von Chávez in Venezuela einen Linksruck auf dem Kontinent ein. 2002 siegte in Brasilien der frühere Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei mit gut 61 Prozent, vier Jahr später konnte er sein Ergebnis fast wiederholen. In Argentinien setzte sich 2003 der Linksperonist Néstor Kirchner durch, 2007 gewann seine Frau Cristina. 2004 siegte in Uruguay die "Breite Front" unter Tabaré Vázquez, 2005 folgte der Triumph des indigenen Kokabauern Evo Morales in Bolivien. Ein Jahr später gewann die chilenische Sozialdemokratin Michelle Bachelet. Mit der Rückkehr der Sandinisten an die Regierung in Nicaragua und dem Erfolg von Rafael Correa in Ecuador 2006 verschob sich das Koordinatensystem des Subkontinents weiter nach links. Im April 2008 leitete Paraguay nach 61 Jahren einen Regierungswechsel ein und wählte den als linksliberal geltenden ehemaligen Bischof Fernando Lugo zum Präsidenten.
Die Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag Heike Hänsel sagt dazu: "Immer mehr lateinamerikanische Staaten nehmen von den alten neoliberalen Wirtschafts- und Entwicklungskonzepten Abstand und erproben eigenständige Wege aus Armut, sozialer Ungleichheit und Rückständigkeit mit dem Ziel, dass mehr Menschen als bisher an politischer Macht und Wohlfahrt teilhaben können." Die EU habe diese neue Politik allerdings bisher eher als Hindernis für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen interpretiert, kritisiert sie.
Der Energiehunger der Schwellenländer und der Weltklimabericht haben gezeigt, wie wichtig globales Handeln beim Klimaschutz ist. Deshalb wird das Thema auch in Lima ganz oben auf der Agenda stehen. EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner spricht von einem neuen Dialog, der angestrengt werden muss.
Nicht zu leugnen ist auch, dass in den vergangenen Jahren in Lateinamerika die Nahrungsmittel-Produktion abgenommen hat. In dem bitterarmen Inselstaat Haiti kam es zu gewaltsamen Protesten, und in Mexiko gingen die Menschen wegen der gestiegenen Preise für Tortillas auf die Straße. Viele Kleinbauern vor allem in Brasilien sind auf den lukrativeren Anbau von Soja und Zuckerrohr für Bio-Kraftstoff umgeschwenkt. Die Preise für Reis, Weizen, Mais und Bohnen haben sich binnen der vergangenen Monate zum Teil verdoppelt. Auch in Lateinamerika droht deshalb eine Hungerkrise. Rund 40 Prozent der Menschen gelten schon jetzt als arm.
Die EU ist Lateinamerikas wichtigster entwicklungspolitischer Partner. Rund 31 Milliarden Euro fließen jährlich in Entwicklungsprojekte. Aber trotz dieser großen Anstrengungen und einem Wirtschaftswachstum ist die Kluft zwischen Arm und Reich auf dem Kontinent weiter angewachsen. "Lateinamerika ist im Vergleich zu Afrika reich genug, um allein seine Armut zu besiegen", sagt Jochen Steinhilber von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sao Paulo. Es gebe aber ein Politik- und Verteilungs- problem.
Vorreiter für die Verflechtung der Beziehungen zwischen beiden Kontinenten waren die Parlamentarier. Schon in den 60er-Jahren nach dem Wegfall des eisernen Vorhangs haben beide Seiten Verbindungen miteinander aufgenommen. In erster Linie ging es damals um die Friedenssicherung in der Konfliktregion Mittelamerika. Seit 1974 finden regelmäßig Begegnungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem lateinamerikanischen Parlament (Parlatino) statt. Seit dem vergangenen Jahr gibt es eine gemischt europäisch-lateinamerikanische Versammlung mit Sitz in Brüssel.
Zweck der Begegnungen ist es, die Zusammenarbeit der Regierungen zu kontrollieren und mehr Bürgernähe zu gewährleisten. Die Vollversammlung tagt halbjährlich und zwar abwechselnd in Lateinamerika und Europa.
http://www.vcumbrealcue.org