SErbien
Nach den Parlamentswahlen ringt das Land um seine außenpolitische Orientierung
Wenn Europa in diesen Tagen nach Belgrad blickt, wird ausnahmsweise einmal nicht allein die schwierige politische Lage der Grund dafür sein: Am 24. Mai findet in Serbiens Hauptstadt der "Eurovision Song Contest" statt, jenes europäische Schlagerfestival, das im vergangenen Jahr von einer serbischen Sängerin gewonnen wurde. Es gilt jedoch als sicher, dass es eine politische Begeleitmusik zu dieser Großveranstaltung geben wird. Derzeit laufen die Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition, und nur größte Optimisten rechnen damit, dass die Gespräche noch im Laufe dieser Woche abgeschlossen werden können. Schließlich hat der serbische Souverän am 11. Mai alles andere als eindeutige Verhältnisse geschaffen.
Im nationalen Parlament werden sich künftig in nahezu gleicher Zahlenstärke zwei Blöcke gegenüberstehen, zwischen denen es zumindest rhetorisch kein Einvernehmen gibt: Stärkste Kraft der einen Seite ist die Serbische Radikale Partei (SRS), deren Vorsitzender formal der vor dem Haager UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien angeklagte ehemalige Freischärlerführer und bekennende großserbische Chauvinist Vojislav Seselj ist. Hinzu kommen die Demokratische Partei Serbiens (DSS) des amtierenden Ministerpräsidenten Vojislav Kostunica sowie die Sozialistische Partei Serbiens (SPS), die bis zu dessen Sturz im Herbst 2000 das Herrschaftsinstrument des damaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic war. Diese drei Parteien eint, zumindest auf dem Papier, die Ablehnung einer weiteren Annäherung Serbiens an die EU - auch wenn ihre Funktionäre dieser Darstellung vermutlich widersprechen würden. Denn offiziell wollen die Kräfte des so genannten antieuropäischen Blocks ihr Land durchaus als Mitglied der EU sehen. Sie stellen dafür jedoch eine Bedingung, die so illusorisch ist, dass ihre Politik letztlich doch einer Abwendung von der europäischen Perspektive Serbiens gleichkommt.
Der vehementeste Vertreter dieser Bedingung ist Kostunica: Erst nachdem die EU ihre Politik der Anerkennung des Kosovos rückgängig gemacht und die ehemalige serbische Provinz wieder Serbien zugesprochen hat, könne sein Land den Kurs der Annäherung an Brüssel fortsetzen, lautet die Linie Kostunicas, die von der Radikalen Partei und zumindest formal auch von den Sozialisten unterstützt wird. Dabei dürfte allen Beteiligten klar sein, dass jene 19 EU-Staaten, die das Kosovo bisher als unabhängig anerkannt haben, diesen Schritt weder rückgängig machen können noch wollen.
Auf der anderen Seite steht jener Block, der vereinfachend als "proeuropäisch" bezeichnet wird. Die stärkste Kraft ist hier das Parteienbündnis, das sich um den serbischen Staatspräsidenten Boris Tadic und die ebenfalls von ihm geführte Demokratische Partei (DS) geschart hat. Hinzu kommen einzelne Abgeordnete der Minderheiten (Ungarn, slawische Muslime, Albaner aus Südserbien) sowie die Liberaldemokratische Partei des erzliberalen ehemaligen Studentenführers Cedomir Jovanovic.
Abgesehen von Jovanovic und dem einen oder anderen Minderheitenpolitiker wird zwar auch in diesem Milieu die Unabhängigkeit des Kosovos abgelehnt, doch ziehen Tadic und seine Mistreiter weitaus realistischere Schlussfolgerungen aus den Vorgängen. Zum einen weisen sie darauf hin, dass es nicht die EU als politische Einheit sei, die das Kosovo als Staat anerkannt habe. Die Anerkennung sei jeweils die Entscheidung der einzelnen Mitgliedstaaten, der sich immerhin acht bisher nicht angeschlossen haben, darunter auch größere wie Spanien. Es sei daher falsch, die EU als solche für die Abtrennung des Kosovos von Serbien verantwortlich zu machen. Außerdem könne Serbien seinen künftigen außenpolitischen Kurs nicht abhängig machen von Forderungen, die nicht durchsetzbar sind.
Dies ist, in groben Zügen nachgezeichnet, die Ausgangslage zum Beginn der Koalitionsverhandlungen. Theoretisch könnte der "antieuropäische" Block sofort eine Regierung mit einer knappen Mehrheit bilden, denn die drei Parteien haben im künftigen Parlament zwei Sitze mehr als ihre politischen Gegner. Hier kommt jedoch ein politisches "Aber" in Spiel, das die Verhandlungen spannend macht: Ausgerechnet die ehemalige "Milosevic-Partei" gilt im Lager der Nationalisten als unzuverlässig. Sozialistenchef Ivica Dacic, ein Pragmatiker, der sich schon zu Lebzeiten Milosevics aus taktischen Gründen vorsichtig von dessen Kurs abgewandt hatte, redet in Hintergrundgesprächen mit westlichen Journalisten und Diplomaten schon seit Jahren davon, dass seine Partei keine Zukunft habe, wenn sie sich nicht zu einer modernen, sozialdemokratisch ausgerichteten Kraft wandele. Das Fernziel: Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationalen (SI).
In der DS von Tadic, die selbst einen Konsultativstatus mit der Aussicht auf Vollmitgliedschaft in der SI innehat, wird deshalb versucht, die Sozialisten auf die eigene Seite zu ziehen. Eines der Argumente lautet, dass der lange Weg von der staatstragenden Partei eines verbrecherischen Regimes bis zu einer anerkannten Kraft der europäischen Linken nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt und hier beginnen müsse.
Das andere und wohl mindestens ebenso überzeugende Argument ist eine Beteiligung an der Macht. Wer die SPS letztlich auf die eigene Seite ziehen kann, bleibt dabei vollkommen offen. Nicht sicher ist zum Beispiel, ob die Basis der SPS einen Kurs der "Verwestlichung" überhaupt zu folgen bereit wäre. Über angebliche Pläne der Sozialdemokratisierung der SPS wird nämlich schon seit Jahren gesprochen, bisher ohne sichtbare Auswirkungen. Es lässt sich daher mit Fug und Recht behaupten, dass Serbiens grundsätzliche außenpolitische Orientierung seit dem Sturz Milosevics noch nie so sehr auf der Kippe stand wie im Jahr 2008, dem Jahr der Unabhängigkeit des Kosovos. Zumindest ein zeitweiliger Rückfall in isolationistische Tendenzen der Vergangenheit ist nicht auszuschließen. Panikmache ist es allerdings, wenn einige Kommentatoren darin nun eine Rückkehr zu Serbiens Aggressionspolitik der 90er-Jahre erkennen wollen. Die Zeiten der großen Kriege sind vorbei, auch die militärische Lage auf dem Balkan hat sich vollkommen geändert. Selbst die Radikale Partei weiß, dass mit kriegs- hetzerischer Rhetorik, ihrer einstigen Spezialität, heute nur noch Wähler zu verlieren sind.