Studie
Philipp Gut hat eine umfassende Arbeit über Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur verfasst
Als altkluger Obersekundaner scheinen diesem Mann Naivität, Unbewusstheit und Selbstverständlichkeit erste Kriterien einer Verfassung zu sein, welcher der Name "Kultur" gegeben wird: "Was uns abgeht", sagt er, sei eben Naivität, und dieser Mangel, "wenn man von einem solchen sprechen darf, schützt uns vor mancher farbigen Barbarei, die sich mit Kultur, mit sehr hoher Kultur sogar, durchaus vertrug". Der Künstler erscheint in einer solchen Perspektive als Barbar - eine Vorstellung, die Thomas Mann auf den Spuren Nietzsches und Bizets skizziert und in seinem "Doktor Faustus" den gerade zitierten Adrian Leverkühn formulieren lässt.
Ein derartiges Kulturverständnis, das fordert, sehr viel barbarischer zu werden, um jener Kultur wieder fähig zu sein, verweist auf eine ideengeschichtliche Ambivalenz: Denn der emphatische Kulturbegriff, den sich das Bürgertum im Gefolge Herders und des Deutschen Idealismus zu eigen machte, hatte eine politische Schattenseite, die 1914 endgültig zum Tragen kam: Im Ersten Weltkrieg diente die Kultur dazu, die machtpolitischen Debatten intellektuell zu überhöhen, wofür Thomas Mann wahrscheinlich das beste Beispiel ist. Der Schriftsteller, 1875 ins neu gegründete Deutsche Kaiserreich geboren und 1955 im überdauerten Exil gestorben, verkörperte die Idee einer deutschen Kultur auf "einzigartige Weise" (Horst Köhler), was die Studie von Philip auf ebenso bemerkenswerte Art erklärt.
Das Buch gibt einen Überblick über die Entwicklung und Veränderung der Mannschen Idee durch die Geschichte und betrachtet zugleich die Problematik einer deutschen Kultur in dessen Oeuvre.
Philipp Gut, Jahrgang 1971, der Geschichte, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich studierte, der nach vierjähriger Assistenz am dortigen Historischen Seminar im Feuilleton des "Tagesanzeiger" arbeitete und heute Redakteur der "Weltwoche" ist, hat eine umfangreiche und umfassende Arbeit verfasst, die sich umsichtig und eindringlich mit Leben und Werk des großen deutschen Intellektuellen Thomas Mann auseinander setzt. Im Zentrum stehen daher sowohl dessen ästhetische und politischen Essays als auch seine Briefe, Notizen, Tagebücher, schließlich freilich die Belletristik, vornehmlich Manns Romane - vom "Zauberberg" (1924) über "Lotte in Weimar" (1939), "Joseph und seine Brüder" (1933-1943) bis hin eben zum erwähnten "Doktor Faustus" (1947).
Zusammen genommen ergibt dies eine immense Fülle an zeitdiagnostischen und kulturtheoretischen Reflexionen, die Philipp Gut auf methodologischer Ebene in werkgeschichtliche und zeithistorische Zusammenhänge stellt.
Dass dabei literaturtheoretische Fragestellungen weitestgehend unbeachtet bleiben und der Stil vornehmlich einem breiteren, allgemein interessierten Publikum als einem wissenschaftlich versierten entgegen kommt - was der Arbeit durchaus zum Vorteil gereicht -, dürfte auch dem Veröffentlichungsort geschuldet sein. Dass eine differenzierte Darstellung des entsprechenden Forschungsstandes schon fast zwangsläufig ausgedünnt worden ist, ist daher nur all zu verständlich. Dass Philipp Gut allerdings darauf verzichtet hat, die "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns" für seine Untersuchung heranzuziehen, ist nur bedingt entschuldbar. Doch das ist nur ein kleiner Einwand angesichts des Gewinns dieses großen Buches, in dem gerade am Beispiel des Jahrhundertautors Thomas Mann geschickt gezeigt wird, wie "das höchste Gut der Deutschen" - nämlich ihre Kultur - zwischen Zivilisation und Barbarei oszilliert.
Der Teufel ist es denn auch, der Adrian Leverkühn ein "historisches Versprechen" (Philipp Gut) nahe legt: "Du wirst führen, du wirst der Zukunft den Marsch blasen", heißt es hier und weiter: "Nicht genug, dass du die lähmenden Schwierigkeiten der Zeit durchbrechen wirst, - die Zeit selber, die Kulturepoche, will sagen, die Epoche der Kultur und ihres Kultus wirst du durchbrechen und dich der Barbarei erdreisten, die's zweimal ist, weil sie nach der Humanität, nach der erdenklichsten Wurzelbehandlung und bürgerlichen Verfeinerung kommt. Glaube mir! sogar auf Theologie versteht sie sich besser als eine vom Kultus abgefallene Kultur, die auch im Religiösen nur eben Kultur sah, nur Humanität, nicht den Exzess, das Paradox, die mystische Leidenschaft, die völlig unbürgerliche Aventüre."
Jene willentliche Rückkehr in die Barbarei, die an dieser Stelle des Romans prophezeit wird und die Leverkühn und seine Zeitgenossen wiederholt fordern, offenbart, dass so zu denken und erst recht so zu handeln, des Teufels ist. In Philipp Guts Worten: Wer einer antizivilisatorischen, mit der Barbarei kokettierenden Kulturform das Wort redet, gerät ins Zwielicht eines doppelten Unheils, historisch und metaphysisch.
Thomas Mann hat sich davon auf seine Art befreit. Er hat sich von seiner frühen Hoffnung, durch das Barbarische einen Vitalitätsschub für eine ermattete Gesellschaft zu erlangen, losgelöst - epochal und hellsichtig, man könnte auch sagen: mit den Mitteln der Literatur.
Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2008; 460 S., 22,90 ¤