BILDUNG
Eine kritische Reise zu Deutschlands Schulen - guten und schlechten
Schon wer unbedingt pünktlich sein will und in alter Gewohnheit die letzten Meter mehr rennt als geht, stellt fest: Es gibt Schulen, da muss man das nicht. An der Montessori-Schule in Potsdam macht es nicht Dingdong und alle stürmen in die Klasse. Stattdessen trudeln die Schüler allmählich ein, frühstücken erst einmal oder setzen sich zum Morgenkreis zusammen. Um halb neun nehmen sie ganz von selbst die Arbeit auf. Fortan ist jeder mit etwas anderem beschäftigt: Der eine rechnet, die andere lernt lesen, ein Dreierteam stellt sich einer kleinen statischen Herausforderung: Wie baut man aus Holzklötzen ein Tor? Zwei Lehrerinnen sind auch im Raum, verhalten sich allerdings ebenso ruhig wie die Kinder. Am Ende der Stunde helfen sie den Kindern, das, was sie gelernt haben, in ein Buch einzutragen. Jeder bewertet sich selber, Zensuren gibt es nicht.
Während die Kultusminister von Einigkeit über das deutsche Schulsystem von morgen kaum weiter entfernt sein könnten, hat man sich an vielen Orten der Republik auf den Weg gemacht: Weg vom Lernen im Gleichschritt und hin zu einem Unterricht, in dem jedes Kind in seinem eigenen Tempo lernt und mit Lehrern, die sich statt als Alleinunterhalter als Moderatoren verstehen. Wer sich entweder nicht vorstellen kann, dass so etwas möglich ist oder wissen will, wie es geht, sollte das Buch des Berliner Bildungsjournalisten Christian Füller lesen: Unter dem Titel "Schlaue Kinder, schlechte Schulen" zeigt der Bildungsredakteur der "Tageszeitung" nicht nur die größten Makel der deutschen Schulen auf, sondern auch ihr genaues Gegenteil. Quer durch die Republik hat er "Landschaften des Lernens" besucht, in denen Schüler keine Angst haben müssen, schlechter zu sein als andere sondern Zeit haben, sich selbstständig anzueignen, was sie wissen wollen. Meist tun sie das mit Hilfe von Instrumenten, die man aus erfolgreichen Pisa-Ländern kennt, zum Beispiel nach einem Wochenplan oder in fächerübergreifenden Projekten. Die meisten Schulen, die Christian Füller besucht hat, sind nicht in privater Hand. Es sind ganz normale staatliche Schulen, die sich vor allem durch eines auszeichnen: durch eine Schulleitung, die nicht nur eine Idee, sondern auch Mut und Energie hatte, sie umzusetzen - nicht selten gegen bestehende Ministerialerlasse, zuweilen auch gegen reformunfreudige Lehrer.
So beruhigend sich die Reise durch innovative Schulen liest, so wenig Mut macht der erste und wesentlich längere Teil des Buchs: "Das Bildungssystem ist veraltet, in allen Bereichen", konstatiert Füller und nennt das Ausmaß des Rückstands gleich dazu: "Jahrzehnte". Das Resultat sind internationale Schulleistungsstudien, die Deutschland im Vergleich der Industriestaaten wie ein Entwicklungsland aussehen lassen. Vor allem aber werden als Folge der Misere Millionen Menschen in Deutschland ihrer Chancen beraubt. Mehrere Millionen Hauptschulabsolventen haben inzwischen kaum noch Aussicht auf eine Berufsausbildung; noch schlechter steht es um mehr als 400.000 Sonderschüler und 80 bis 100.000 Schulabbrecher im Jahr. "Der Befund ist beschämend. Bildungschancen sind Lebenschancen. Sie dürfen nicht von der Herkunft abhängen." Der das sagt, ist übrigens nicht der Autor Christian Füller, sondern der Bundespräsident Horst Köhler.
Auf Dauer, das macht das lesenwerte Buch mehr als deutlich, wird Deutschland mehr benötigen als Lernlandschaften, -inseln oder -oasen. Die benötigte pädagogische Revolution hätte viele Bestandteile, aber unter anderem einen sehr Naheliegenden: Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Verantwortlichen für Bildung in Deutschland - und zwar von den Eltern über die Lehrer bis zu den Kultusministern und der Wirtschaft - die ihnen übertragene Verantwortung auch tragen würden. Und zwar nicht für den Durchschnitt oder die Mehrheit. Sondern für jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin.
Schlaue Kinder - schlechte Schulen.
Droemer Knaur, München 2008; 288 S.,16,95 ¤