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Nach dem Erdbeben hat Peking ein anderes Gesicht gezeigt. Das ist nun vorbei
Für chinesische und ausländische Journalisten war es eine völlig neue Erfahrung: Fast ungehindert konnten sie nach dem schweren Erdbeben in der südwestchinesischen Provinz Sichuan am 12. Mai über die Naturkatastrophe und die Folgen berichten. "Wir wurden kaum behindert, im Gegenteil, die Behörden haben uns geholfen", berichteten langjährige Korrespondenten. An manchen Kontrollpunkten der Polizei erklärte man den Journalisten sogar den Weg durch die Trümmer.
Normalerweise herrscht im Reich der Mitte eine strenge Zensur, werden ausländische Journalisten regelmäßig an der Berufsausübung gehindert. Im vergangenen Jahr wurden zwar die Bestimmungen mit Blick auf die Olympischen Sommerspiele gelockert, aber der Pekinger Club der Auslandspresse registrierte seitdem dennoch allein über 230 Fälle von Behinderungen seitens der Behörden.
Die ungewohnte Offenheit in Sichuan hat darum auch chinesische Experten überrascht. Medienprofessor Shi Anbin von der renommmierten Tsinghua-Universität in Peking wertete die neue Freiheit als einen allgemeinen "Trend zu mehr Offenheit und Reformen". Die Regierung habe "Lehren aus den negativen Reaktionen" gezogen, die es nach den Unruhen in Tibet im März dieses Jahres gegeben hatte.
Doch möglicherweise steckte hinter der Haltung der Behörden vor allem taktisches Kalkül. Denn anders als in Tibet ging es in Sichuan zunächst einmal nicht um politisch heikle Themen. "Sie haben begriffen, dass sie viel mehr Sympathie bekommmen und international besser dastehen, wenn sie den Medien Zugang gewähren", sagt Rebecca MacKinnon, Professorin für Journalismus an der Universität Hongkong.
Gut einen Monat nach dem Beben und kurz vor den Olympischen Spielen in Peking ist es mit der neuen Offenheit allerdings schon wieder vorbei. Mitte Juni, beim Fackellauf in der nordwestchinesischen Unruhe-Provinz Xinjiang, wo sich die Uiguren von den Chinesen unterdrückt fühlen, war von freier Berichterstattung nicht mehr die Rede. Als das olympische Feuer wenige Tage später durch die tibetische Provinzhauptstadt Lhasa getragen wurde, durfte nur eine kleine Gruppe handverlesener Korrespondenten dabei sein. Jeder Schritt während ihres zweitägigen Aufenthalts in der Stadt wurde genau kontrolliert.
Und erst vergangene Woche wurden chinesische Journalisten angewiesen, sich die jüngste Rede von Präsident Hu Jintao zu Herzen zu nehmen. Darin hatte er die Medien aufgefordert, "strikte Propaganda-Disziplin" zu wahren und die öffentliche Meinung "richtig" zu leiten - zum Wohle der Partei, der Nation und des Volkes.
Dennoch hat die chinesische Reaktion auf das verheerende Beben geholfen, Chinas Image aufzupolieren. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe mit rund 80.000 Toten und Vermissten, klingt der Chor der internationalen China-Kritiker jetzt weniger schrill. In China selbst sind die aggressiven nationalistischen Töne, die sich noch vor wenigen Wochen vor allem gegen die westlichen Medien und vermeintlich Dalai-Lama-freundliche Länder wie Frankreich richteten, vorerst verstummt.
"Das Beben hat viele Spannungen erst einmal neutralisiert", sagt der Pekinger Medienexperte Andrew Lih. Aber das Grundproblem bleibt: Während sich China zu den olympischen Spielen als moderne Wirtschaftsmacht präsentieren will, die internationalen Respekt und Anerkennung verdient, fragt der Westen nach Fortschritten in Sachen Demokratie, Pressefreiheit und Menschenrechte.
Genau darauf war China nicht vorbereitet, sagt die amerikanische Expertin Elizabeth Economy. "Die Vorbereitungen für die Spiele waren maßgeschneidert, um Chinas größte politische und wirtschaftliche Stärken vorzuführen", schreibt die China-Kennerin in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift "Foreign Affairs": Bei der von oben angeordneten Mobilisierung von Ressourcen für große Infrastrukturprojekte etwa konnte China auf langährige Erfahrungen zurückgreifen, sagt Economy. Aber keiner in der Pekinger Führungsspitze habe vorausgesehen, dass Forderungen nach mehr politischen Freiheiten oder mehr Autonomie für Tibet der großen "Coming-out-Party" Chinas einen deutlichen Dämpfer versetzen könnten.
Auch chinesische Kritiker sehen hier den eigentlichen Schwachpunkt. "China hat nicht begriffen, dass ,soft power' und nicht ,hard power' heute das Wesentliche ist", sagt der kritische Journalist Li Datong. Er zählt dazu die Menschenrechte, die Einhaltung universeller Grundwerte, das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft.
Dass selten über Chinas Fortschritte in diesen Bereichen geredet wird, habe sich die Regierung selbst zuzuschreiben. Es mangele immer noch an Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit. Li: "Wenn es gut läuft, werden Fortschritte zugelassen, aber bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten fällt das totalitäre Einparteien-System in alte Verhaltensmuster zurück."
Chinas Umgang mit seinen Kritikern zeuge von "politischer Kurzsichtigkeit", sagt auch Elizabeth Economy. Denn das führe lediglich dazu, dass Spannungen nun die gesamten Spiele überschatten dürften. Schon jetzt werden Befürchtungen laut, dass etwaige Proteste extreme Formen annehmen könnten - sollten etwa Anhänger der in China verbotenen Meditationsbewegung Falun Gong versuchen, sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst zu verbrennen.
Im Vorfeld der olympischen Spiele gilt die größte Sorge der Organisatoren daher der Kontrolle. Westliche Diplomaten sprechen von regelrechten "Sicherheitsparanoia" in weiten Teilen der chinesischen Regierung. Visavorschriften etwa werden restriktiver denn je ausgelegt, um genau zu kontrollieren, wer im Sommer ins Land reist.
Für die Besucher der Spiele hat zudem China weitreichende Verbote erlassen, die "subversive Aktivitäten" oder die Einfuhr "schädlicher Inhalte" verhindern sollen. Die chinesische Regierung schade sich mit dieser Politik nur selbst, kommentiert ein Diplomat in Peking. Berechtigte Sicherheitsinteressen dürften nicht zu Lasten des Gesamtereignisses gehen. Denn ausgelassene Olympiastimmung kommt so kaum auf.
Der Traum von der großen Olympiaparty läuft Gefahr, als freudlose, streng reglementierte Aufführung unter den wachsamen Augen der chinesischen Sicherheitskräfte zu enden. Doch China-Kenner wie Andrew Lih mögen die Hoffnung nicht aufgeben, dass das Beispiel Sichuan vielleicht doch eines Tages Schule machen könnte. "Ich hoffe, dass China - wie so oft - drei Schritte nach vorne geht und vielleicht nur einen zurück und dass der Trend Richtung Offenheit und Transparenz anhält."