KINDERBETREUUNG
Trotz Expertenkritik hält die Union am Betreuungsgeld fest
Das Elterngeld scheint ein Erfolgsmodell zu sein. Erstmals seit zehn Jahren ist in Deutschland die Zahl der Geburten angestiegen. 2007 wurden 12.000 Kinder mehr als im Jahr davor geboren, teilte das Statistische Bundesamt am 26. Juni mit. Ein Erfolg, den sich auch Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) ans Revers heften kann. Nun soll der nächste wichtige familienpolitische Schritt erfolgen. Das sich derzeit in der parlamentarischen Beratung befindliche Kinderförderungsgesetz (16/9299) sieht den schrittweisen Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren bis 2013 auf eine bundesweit durchschnittliche Betreuungsquote von 35 Prozent vor. Vom 1. August 2013 an soll es dann einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr geben.
Aus Sicht der zu einer öffentlichen Anhörung des Familienausschusses am 23. Juni geladenen Experten ein "richtiger und wichtiger Schritt", wie unter anderem Doris Beneke vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands sagte. "Begeistert" darüber, dass mit dem Gesetz eine herkunftsunabhängige Entwicklung von Kindern ermöglicht werde, zeigte sich gar Professor Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut.
Doch einen Haken hat das Ganze: vorgesehen ist in dem Gesetz auch die Zahlung eines Betreuungsgeldes - despektierlich auch "Herdprämie" genannt - in Höhe von 150 Euro an Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in einer Tageseinrichtung betreuen lassen wollen. Und damit sind die meisten Experten ganz und gar nicht einverstanden. Beim Betreuungsgeld habe sie "große Bedenken", sagte beispielsweise Antje Funke von der Bertelsmann-Stiftung. Internationale Erfahrungen hätten gezeigt, dass diese Leistung insbesondere Kindern aus einem schwierigen soziokulturellen Umfeld den Zugang zu frühkindlicher Bildung verwehren würde und damit eben jenen Kindern, die ihn am dringendsten benötigten.
Auch Thomas Rauschenbach befürchtet, eine kriterienlose Vergabe des Betreuungsgeldes könne sich "fatal und kontraproduktiv" auswirken. Kindern, die in ökonomischer und damit oftmals einhergehender kultureller und sozialer Armut aufwüchsen, würde so die Chance vorenthalten, schon frühzeitig in ihrer Entwicklung zusätzlich gefördert zu werden. Besser wäre es, so Rauschenbach, die dafür veranschlagten 1,2 Milliarden Euro in die "Qualitätssteigerung bei der Betreuung zu stecken". Als "nicht akzeptabel" bezeichnete Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) das Betreuungsgeld.
Aber auch in der Politik gibt es Widerstände. Die Grünen fordern in einem Antrag ( 16/7114), dem Betreuungsgeld eine Absage zu erteilen, um somit eine "bildungspolitische Katastrophe" zu verhindern. Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast hatte schon in der Debatte zur Existenzsicherung von Kindern Anfang Juni ihre Befürchtung geäußert, dass die "falschen Eltern" das Geld bekämen. Das zeige auch das Beispiel Thüringen, wo es schon ein Betreuungsgeld gibt.
Dort würden gerade Eltern aus bildungsfernen und finanziell schwachen Schichten ihr Kind nicht in den Kindergarten bringen, sondern lieber das Betreuungsgeld kassieren. Es müsse jedoch darum gehen, dass Kinder einen Anspruch haben, sich entwickeln zu können. Diese Entwicklung dürfe nicht daran scheitern, dass die Eltern an dieser Stelle Geld sparen wollen, so Künast.
Selbst in der Koalition ist das Thema umstritten. Die SPD, so die familienpolitische Sprecherin der Fraktion Caren Marks, lehnt das Betreuungsgeld als "rückwärtsgewandt" ab. Es sei bildungs- und gleichstellungspolitisch kontraproduktiv. Marks bedauert, dass die Familienministerin beim Betreuungsgeld "eingeknickt" sei. Dennoch sei die Regelung im Gesetz ein "akzeptabler Kompromiss". "Eine endgültige Entscheidung über das Betreuungsgeld wird es erst 2013 geben. Das ist in dem Gesetz so vorgesehen", sagt die SPD-Politikerin.
Aus Sicht des Familienexperten der Unions-Fraktion Johannes Singhammer gibt es in dieser Frage jedoch keinen Spielraum. Die Frage sei "entschieden", stellte er auf Anfrage dieser Zeitung klar: "Das Betreuungsgeld ist in trockenen Tüchern." Auch die Expertenkritik ficht den CSU-Politiker nicht weiter an. Die Experten hätten ihre Meinung - 80 Prozent der Bevölkerung würden hingegen die mit dem Gesetz einhergehende "Wahlfreiheit" begrüßen, so Singhammer.
Strittig ist auch ein zweiter Kernpunkt des neuen Gesetzes. Vorgesehen ist dort, die Länder zu verpflichten, die "finanzielle Gleichbehandlung aller Träger von Tageseinrichtungen, die die rechtlichen und fachlichen Vorraussetzungen für den Betrieb erfüllen" zu gewährleisten.
Das stößt auf Widerspruch bei den Linken. In einem Antrag ( 16/9305) fordert die Fraktion daher, diesen Passus in dem Gesetz zu streichen, da es bei einer Gleichbehandlung von privaten und gemeinnützigen Anbietern von Kinderbetreuung zu einer "teuren Luxusbetreuung" für Kinder zahlungskräftiger Eltern und der "Billigverwahrung" für die Kinder einkommensschwacher Eltern komme. Die FDP-Fraktion sieht dies ganz anders und spricht sich in einem eigenen Antrag ( 16/8406) explizit für die Gleichbehandlung aus. Nur bei einem gleichberechtigten Zugang zu öffentlicher Förderungen sei ein zügiger Ausbau der Kindertagesbetreuung möglich.
Auch in dieser Frage sind sich Union und SPD noch nicht einig. Die Union fordert "deutlich verbesserte Möglichkeiten bei der Förderung von privaten Trägern", da sonst die geplante Verdreifachung der Kapazitäten nicht zu erreichen sei, wie Johannes Singhammer sagt. Caren Marks hingegen will eine so wichtige Aufgabe wie die der frühkindlichen Bildung "nicht den Kräften des freien Marktes überlassen". "Ansonsten besteht die Gefahr einer sozialen Selektion schon im frühesten Kindesalter", befürchtet Marks. Sie hoffe, dass sich der Koalitionspartner in dieser Frage noch bewegen werde. Diese Hoffnung könnte sich erfüllen, denn auch Singhammer macht deutlich, dass "über Einzelheiten noch beraten wird".
Bereits verabschiedet hingegen wurde am 26. Juni mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen die Neuregelung des Kinderzuschlages ( 16/8867, 16/9792). Mit einem Zuschlag von 140 Euro pro Kind sollen Geringverdiener, die zwar ihren eigenen Lebensunterhalt sichern können, nicht aber den ihrer Kinder, aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II) geholt werden. Durch die Neuregelung sollen 120.000 Kinder und 50.000 Familien zusätzlich erreicht werden. Ein Grünen-Antrag ( 16/8883), der eine Weiterentwicklung des Kinderzuschlages ebenfalls als "dringend notwendig" erachtet, den Gesetzentwurf der Koalition aber "als zu halbherzig" kritisiert, lehnte der Bundestag ab. Der Antrag der Linksfraktion ( 16/9746), der sich gegen die Benachteiligung von Alleinerziehenden wendet, wurde zur weiteren Beratung in den Familienausschuss überwiesen.