PATIENTENVERFÜGUNG
Befürworter und Gegner streiten über den richtigen Weg zur Selbstbestimmung
Die moderne Medizin kann selbst bei schwersten Krankheiten Leben retten. Sie kann das Leben von Schwerkranken verlängern, die das vielleicht aber gar nicht wollten, als sie noch bei vollem Bewusstsein waren. Abhilfe könnte eine Patientenverfügung bringen, in der man erklärt, dass zum Beispiel keine künstliche Ernährung durchgeführt werden soll. Das sei Recht auf Selbstbestimmung, meinen die Befürworter, während die Gegenseite von der Möglichkeit der verbotenen aktiven Sterbehilfe spricht. Handlungsbedarf gebe es aber auf jeden Fall. Darin waren sich die meisten Redner in der Debatte des Bundestages am 26. Juni einig.
Denn neun bis zehn Millionen Bundesbürger sollen bereits Patientenverfügungen erstellt haben. Deren Gültigkeit ist aber umstritten. Eine Gruppe von 209 Abgeordneten aus den Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Linksfraktion hat daher einen Gesetzentwurf ( 16/8442) zur Änderung des Betreuungsrechts vorgelegt. Kernpunkt der Regelung ist nach Angaben des Initiators, des SPD-Abgeordneten Joachim Stünker: "Falls ein Patient entscheidungsunfähig ist, hat der behandelnde Arzt eine vorgelegte Patientenverfügung zu respektieren, sofern diese aktuell und auf die gegebene Situation anwendbar ist." Die Patientenverfügung muss schriftlich vorliegen. Die Vorgaben in der Verfügung, zum Beispiel die Ablehnung künstlicher Ernährung oder Beatmung, sollen nur dann umgesetzt werden müssen, "wenn er auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft", wie Stünker sagte. Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter müssten dies gemeinsam feststellen. Gebe es keine Einigung, habe das Vormundschaftsgericht die Entscheidung zu treffen.
Stünker wies Vorwürfe zurück, mit diesem Gesetzentwurf werde das Sterben geregelt. "Wir wollen nicht das Sterben regeln, wir wollen lediglich Rechtssicherheit schaffen, wie mit Patientenverfügungen umzugehen ist, so der SPD-Abgeordnete. "Unser Gesetzentwurf hat mit aktiver Sterbehilfe überhaupt nichts zu tun", ergänzte er.
Dies wurde von mehreren Rednern der Unionsfraktion anders beurteilt: "Der Lebensschutz ist nicht ausreichend berücksichtigt", kritisierte der CDU-Abgeordnete Markus Grübel. In der Verfassung gebe es das Gebot für einen schonenden Ausgleich zwischen den Werten Selbstbestimmung und Lebensschutz. "Herr Stünker, ich sehe bei Ihrem Entwurf die Gefahr, dass ein Mensch irrtümlich eine Patientenverfügung unterschreibt und dass dann die Behandlung einer heilbaren Krankheit eingestellt wird. Das falsche Formular am Schriftenstand mitgenommen und unterschrieben, und schon ist es geschehen", so Grübel.
Inzwischen gibt es rund 200 für Patientenverfügungen, die zum Beispiel im Internet erhältlich sind. Man kann sich auch aus Textbausteinen eine individuelle Verfügung zusammenstellen. Grübel: "Kein Arzt kann wirklich wissen, ob der Patient das richtige Formular beispielsweise aus dem Internet heruntergeladen hat oder eher zufällig unter www.patientenverfügung.de eine Patientenverfügung erhalten und unterschrieben hat."
Der FDP-Abgeordnete Michael Kauch wies auf den Freiwilligkeits-Charakter der Verfügungen hin: "Niemand muss eine Patientenverfügung abfassen." Es sei völlig in Ordnung, wenn jemand sage, er habe einen Bevollmächtigten, der im Falle von schwerer Krankheit für ihn entscheide. "Wer aber klar weiß, was er will und was er nicht will, dessen Patientenverfügung muss geachtet werden. Das darf vom Staat nicht in Frage gestellt werden." Birgitt Bender (Bündnis 90/Die Grünen) ergänzte: "Einem unmündigen Kind muten wir keine existenzielle Entscheidung zu. Aber ein erwachsener sterbender Mensch ist kein Kind, und Patientenwohl kann nicht heißen, dass andere sagen, was für diesen Menschen gut ist." Es könne nur der eigene Wille maßgebend sein, sofern er vor der Erkrankung geäußert worden sei.
Lukrezia Jochimsen (Linksfraktion) wies auf einen anderen Aspekt hin. So sollen in Deutschland pro Jahr etwa 140.000 Magensonden für künstliche Ernährung gelegt werden. "Wenn das so ist, dann wäre es allein schon wegen dieses Zustandes wichtig, dass sich Menschen per Patientenverfügung wehren können." Entscheidungen, die im Zustand der Einwilligungsfähigkeit getroffen würden, müssten auch später für Ärzte, Betreuer und Angehörige bindend sein. Das sei eine schwierige Gratwanderung, "aber schwerste Krankheit, Sterben und Tod stellen uns vor schwere Aufgaben".
"Man hat Angst vor würdelosem Sterben, vor Schläuchen, Neonlicht, Beatmungsmaschinen und ganz besonders vor künstlicher Ernährung", stellte Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) fest. Die Abgeordnete zweifelt, ob sich alles regeln lässt: "Die Vorstellung, ich müsste mich im Leben immer an das halten, was ich einmal für mich beschlossen habe, erschreckt mich schon morgens beim Aufstehen."
Julia Klöckner (CDU/CSU), eine strikte Gegnerin des Stünker-Entwurfs, zweifelt ebenfalls an einer allumfassenden Regelbarkeit. "Eines ist ganz klar. Nämlich dass wir nicht alle möglichen Eventualitäten des Lebens und Sterbens in ein Gesetz fassen können."
Noch ist aber völlig unklar, ob der Stünker-Entwurf eine Mehrheit im Bundestag finden wird oder nicht. Etwa ein Drittel aller Abgeordneten hat bisher unterschrieben. Abgeordnete, die den Lebensschutz stärker betont wissen wollen, wollen einen Gegenentwurf vorlegen. Aber auch hier ist fraglich, ob es eine Mehrheit geben wird. Es könnte also passieren, dass beide Gruppen im Bundestag keine Mehrheit finden, und es somit zu keiner Regelung kommt.
Grübel bot daher eine "Volkspatientenverfügung" als Kompromiss an. Die einfach gehaltene Verfügung würde mit einer Reichweitenbeschränkung versehen, also erst für die Sterbephase gelten. Bei einer schweren aber heilbaren Lungenentzündung würde der Verzicht auf künstliche Ernährung und Beatmung nicht gelten. Nur wer eine intensive rechtliche und medizinische Beratung erhalten habe, soll laut Grübel eine qualifizierte Verfügung ausstellen dürfen. Diese müsse aber regelmäßig aktualisiert werden.