OSTSEEPIPELINE
Das Europaparlament will mehr Energiesicherheit, aber keine nationalen Alleingänge
Hätte das Europaparlament darüber zu entscheiden, sollten nationale Alleingänge bei großen Energieprojekten der Vergangenheit angehören. Am 7. Juli, dem Tag, an dem sich in Brüssel die Finanzminister nach langem Streit darauf einigten, die nationalen Ölreserven offenzulegen, wurde in Straßburg über die Gaspipeline durch die Ostsee debattiert. Sie ist kein europäisches, sondern ein deutsch-russisches Projekt. Die Abgeordneten begrüßten die Möglichkeit, neue Energiequellen für die EU zugänglich zu machen. Sie wandten sich aber gegen nationale Alleingänge. Deshalb stimmte eine große Mehrheit am 8. Juli für den Bericht des polnischen Abgeordneten Marcin Libicki aus der Fraktion für das "Europa der Nationen" (UEN), der strengere Umweltauflagen, eine Schadenersatzgarantie und die Einbeziehung der Nachbarländer in die Planung und den Bau der Ostseepipeline fordert.
Von 2012 an soll die etwa 1.200 Kilometer lange Doppelröhre Erdgas vom russischen Städtchen Wyborg nach Greifswald befördern. Die Betreibergesellschaft Nord Stream AG gehört zu 51 Prozent dem russischen Staatskonzern Gazprom, sowie zu je 20 Prozent BASF Wintershall und E.ON. Die Nederlanse Gasunie hält neun Prozent. Pro Jahr sollen bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas aus russischen Gasfeldern nach Deutschland gepumpt werden, die etwa 20 Millionen Haushalte mit Energie versorgen können.
Im vergangenen Jahr sammelten Gegner des Projekts 30.000 Unterschriften und reichten sie beim Petitionsausschuss des Europaparlaments ein. Daraufhin beschloss der Ausschuss einstimmig, einen Bericht über die Auswirkungen der Tiefseeleitung auf die Umwelt zu verfassen. Diesen Anspruch konnte das Parlament aber bei seiner Plenarsitzung vergangene Woche nicht einlösen. Viele Abgeordnete beklagten, sie müssten "blind" abstimmen, da die Umweltverträglichkeitsprüfung derzeit noch nicht abgeschlossen ist.
Polen ist aus politischen Gründen von Anfang an dagegen, dass die Gasleitung in der Ostsee verlegt werden soll. Die Regierung ist überzeugt, dass diese deutlich teurere Route nur gewählt wurde, um eine polnische Beteiligung auszuschließen. Nach der Gaskrise vor zweieinhalb Jahren, als Russland die Lieferungen in die Ukraine zeitweise stoppte und in Polen der Gasdruck sank, ist ein Trauma im Land tief verankert: von der Gaszufuhr abgeschnitten zu sein.
Aber auch Finnland, Schweden und die Baltischen
Staaten lehnen die Ostseetrasse ab, weil sie negative Folgen
für die Umwelt fürchten. Etwa 80.000 Tonnen Munition und
chemische Waffen wurden nach dem
Zweiten Weltkrieg in der Ostsee versenkt. "1941 wurden
Kriegsschiffe und Munition in einer Schlacht versenkt. Das hat ein
russischer Abgeordneter erst vor wenigen Tagen zugegeben",
erinnerte der estnische Sozialdemokrat Andres Tarand. "Phosphor
kann freigesetzt werden, ebenso Dioxin oder Schwermetalle. Dann
werden die Menschen über den Speisefisch vergiftet."
Der konservative ungarische Abgeordnete Andràs Gyürk sagte: "Wir wissen nicht, welche Gefahren es birgt, auf einer Länge von 1.200 Kilometern den Meeresboden umzupflügen. Ohne gründliche Umweltanalyse darf der Bau nicht beginnen." Die neue Pipeline fällt unter die UN-Espoo-Konvention, die grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen regelt. Russland hat diese Konvention unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert. Nach öffentlichem Druck erklärte sich Nord Stream bereit, eine Umweltverträglichkeitsprüfung in Auftrag zu geben. Sie dauert aber noch an.
Recht hilflos klang die Mahnung von Umweltkommissar Stavros Dimas, Russland möge das Espoo-Abkommen beachten. "Die Kommission kann nur einschreiten, wenn europäisches Umweltrecht verletzt wird", sagte er. Mitspracherecht haben laut Espoo-Konvention nur Staaten, deren Wirtschaftszonen von der Pipeline berührt werden, also Finnland, Schweden, Russland und Deutschland.
Der finnische Sozialist Lasse Lehtinen brachte die zwiespältige Haltung der Anrainer zum Ausdruck:"Wir sind auf das Gas angewiesen. Eine unabhängige Umweltverträglichkeitsprüfung ist wichtig, aber wir sollten auch keine künstlichen Hindernisse aufbauen. Es gibt keine gefahrlosen Projekte. Auch Landwirtschaft und Öltanker gefährden die Qualität der Ostsee", sagte er. Damit kritisierte Lehtinen indirekt seine estnischen Nachbarn, die geologische Voruntersuchungen für die Pipeline in baltischen Hoheitsgewässern verhindert hatten.
Auch in Estland sitzt das Misstrauen gegen Russland, das noch immer als ehemalige Besatzungsmacht gesehen wird, tief. 1993 hatte die russische Regierung aus Protest gegen ein für die russische Minderheit nachteiliges neues Staatsbürgerschaftsrecht in Estland die Gaslieferungen dorthin zeitweise eingestellt. In diesem historischen Kontext ist es nicht erstaunlich, dass sich überwiegend polnische, nordische und baltische Abgeordnete an der Debatte beteiligten.
Viele Abgeordnete versuchten, die Empfindlichkeiten ihrer Kollegen zu berücksichtigen, ohne das geplante Projekt zu blockieren. Die liberale britische Abgeordnete Diana Wallis bedauerte, dass Russland ein bilaterales Abkommen mit Deutschland gewählt habe. Wallis äußerte aber auch die Hoffnung, dass durch die geplante Pipeline ähnlich enge Bindungen entstehen könnten, wie sie die Nordseepipeline zwischen ihrem britischen Wahlkreis und Norwegen geschaffen habe.