Dokumentation
In Interviews aus den Jahren 1944 bis 1948 schildern Kinder den Holocaust
Von welchen Faktoren hing es ab, ob ein jüdisches Kind die erbarmungslose Verfolgung durch die Nationalsozialisten überleben konnte? Das ist eine der Fragen, die der Band "Kinder über den Holocaust" untersucht. 56 Protokolle von Interviews, die die Zentrale Jüdische Historische Kommission zwischen 1944 und 1948 mit den überlebenden Kindern geführt hat, bilden den Kern des Buches.
Feliks Tych vom Jüdischen Historischen Institut Warschau sowie Alfons Kenkmann und Elisabeth Kohlhaas von der Universität Leipzig haben die Aufgabe übernommen, die Dokumente zu erläutern. Dies ist schon deshalb notwendig, weil nichts an den Bedingungen, unter denen die Aufzeichnungen entstanden, "normal" war. "Das Überleben stellte die Ausnahme dar; die Ermordung war die Regel", stellen Kohlhaas und Kenkmann gerade in Bezug auf Kinder als Gruppe von Überlebenden fest. Insgesamt interviewte die Kommission 428 Kinder - das war knapp ein Zehntel derer, die den Holocaust soeben überlebt hatten. Die aufgezeichneten Eindrücke der Kinder sind in einem Maße lebendig, das ihre Lektüre zu einer fast unerträglichen Annäherung an den Völkermord macht.
Grundsätzlich hatte die Zentrale Jüdische Historische Kommission für die Interviews eine möglichst einheitliche Form angestrebt, die die wissenschaftliche Verwertbarkeit der Befragungen sicherstellen sollte. Zu diesem Zweck entwickelte sie einen Interviewleitfaden, in dem auch die Ziele der Befragungen festgehalten sind. Man wollte nicht nur Material für eine "Anklageschrift gegen den deutschen Faschismus" sammeln, sondern auch die "Stärke und Tüchtigkeit der jüdischen Jugend" belegen, in der man einen Anhaltspunkt für das Überleben erblickte. Zu diesem Zweck waren die Interviewer auch aufgefordert, ihre Eindrücke von den Jugendlichen festzuhalten.
Den jungen Zeitzeugen selbst, die zum Zeitpunkt der Interviews noch keine 18 Jahre alt waren, war diese Zielsetzung nicht bewusst. Sie erzählen schreckliche Geschichten, berichten von Jahren ständiger Verfolgung und Einsamkeit. Häufig hatten sie einen Elternteil oder die ganze Familie verloren und mussten sich allein durchschlagen. Sie lernten sich zu verstellen und katholische Gebete herzusagen, sie durften weder trauern noch unbefangen spielen.
Einige Kinder überlebten bei den Partisanen oder als "Waldjuden", einige wurden von polnischen oder ukrainischen Familien versteckt. Auch dies bedeutete ein Leben in Angst: Jederzeit konnte sich ein Helfer aus Angst oder weil den Verborgenen das Geld ausging, gegen sie wenden, sie vertreiben oder gar verraten.
Die Kinder berichten davon, wie sie Ghetto, Vernichtungslager und Todesmärsche überstanden. Für einige war auch nach der deutschen Niederlage die Zeit der Verfolgung nicht vorbei: In den Interviews sind auch die antisemitischen Pogrome von Ukrainern und Polen dokumentiert.
Wie sie überlebten, darauf weisen nicht zuletzt die Beobachtungen der Interviewer hin. "In der Art, wie es sich gibt und verhält, hat es wenig Ähnlichkeit mit einem jüdischen Kind", charakterisiert die Protokollantin Genia Silkes den 1936 geborenen Seweryn. Und über die 16-jährige Zofia heißt es 1947: "Mittelgroß, kraushaarig, schwarze Augen, ähnelt im Aussehen einer Ukrainerin." Das Mädchen hatte wie Seweryn "auf der arischen Seite" - also versteckt bei Nichtjuden - überlebt.
Die Protokollanten berichten von den Folgen dieser schrecklichen Jahre: Die Kinder seien unruhig und unkonzentriert, viele hätten große Probleme, sich ihrem Alter entsprechend zu artikulieren. Besonders schrecklich aber ist es zu lesen, dass die Kinder sich als Überlebende dafür verantwortlich fühlten, dass sie den Tod von Angehörigen nicht hatten verhindern können, während die tatsächlich Verantwortlichen sich teilweise noch Jahrzehnte später weigerten, ihre Schuld anzuerkennen.
Kinder über den Holocaust.
Metropol Verlag, Berlin 2008; 328 S., 19 ¤