Wirtschaftsordnung
Friedrich Merz und Ottmar Schreiner liefern sich ein publizistisches Fernduell. Der Christdemokrat setzt auf die Kräfte des freien Marktes, der Sozialdemokrat auf den Willen zur politischen Gestaltung
Friedrich Merz (CDU/CSU): "Die Globalisierung eröffnet ungeheuer große Chancen, und Deutschland ist bislang ein Gewinner der Globalisierung." Beifall bei CDU/CSU und FDP. Ottmar Schreiner (SPD): "Der Weltmarkt ist keine Naturgewalt, er darf nicht als Alibi für politischen Gestaltungsverzicht herhalten." Beifall der SPD, Zustimmung bei Grünen und Linkspartei. Friedrich Merz: "Jede Woche, jeden Monat gibt es ein neues Leistungsversprechen von der Bundesregierung." Ottmar Schreiner: "Deutschland ist schon seit längerem kein sozialstaatliches Musterland mehr." Merz: "Der Markt ist sozial und der Kapitalismus gerecht!" Unruhe bei SPD, Grünen und Linkspartei. Schreiner: "Der soziale Zusammenhalt zerbröselt, ganz oben herrscht hemmungslose Raffgier!" Zurufe von CDU/CSU und FDP...
Diesen kontroversen Dialog, der in einer Bundestagsdebatte geführt worden sein könnte, hat es nie gegeben. Aber alle Zitate sind den Büchern "Mehr Kapitalismus wagen" von Merz und "Die Gerechtigkeitslücke" von Schreiner entnommen. Die beiden Autoren könnten kaum gegensätzlicher sein, ihre Buchtitel auch nicht, und erst recht nicht die Inhalte. Dennoch haben Merz und Schreiner eine Gemeinsamkeit: In ihren Parteien sind sie Randfiguren geworden. Der elegante Wirtschaftspolitiker Merz wurde von Angela Merkel fortgedrängt, der robuste Sozialpolitiker Schreiner geriet während Gerhard Schröders Kanzlerschaft in eine Außenseiterrolle. Doch beide hat der Mut nicht verlassen, unbeirrt ihre Positionen zu vertreten.
Über weite Strecken lesen sich die Bücher wie Rede und Gegenrede. Selten gibt es Übereinstimmungen - und wenn, dann werden sie unterschiedlich begründet oder führen zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen. Merz und Schreiner, da prallen zwei Denkwelten aufeinander, da werden Widersprüche zwischen den Unionsparteien und der Sozialdemokratie sichtbar.
Bei dem Sauerländer Merz, dem manchmal Abwanderungsgelüste zur FDP nachgesagt werden, wird durchgehend deutlich, dass er fest in der Tradition des streng an die Kraft der marktwirtschaftlichen Ordnung glaubenden CDU-Flügels verwurzelt ist, auch wenn er über manche seiner Parteifreunde spottet. Und der Saarländer Schreiner, dem manche andichten, er sei auf dem Absprung zur Linkspartei, spricht von "meiner Partei" und "meiner Fraktion", macht aber unverblümt deutlich, dass er die "Hauptarchitekten" der Agenda 2010, seinen ehemaligen Parteivorsitzenden, Ex-Kanzler Schröder, und dessen früheren Kanzleramtschef, den aktuellen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, für die "Entsozialdemokratisierung" der SPD verantwortlich macht.
Trotz spürbarer Abstände zu Entwicklungen und Standpunkten ihrer beiden Parteien schlagen jedoch beide Töne an, die nicht als destruktiv oder unsolidarisch missverstanden werden können - zumal der geschmeidige Merz wie der zornige Schreiner fast alles, was sie geschrieben haben, auch schon intern und öffentlich gesagt hatten.
Schreiner muss wohl mehr gelitten haben in seiner Partei. Die Hartz-IV-Gesetze sieht er als Symbol für den "Niedergang der modernen Sozialdemokratie" mit der Folge, dass der Arbeitsmarkt nicht flexibler, sondern "in Wirklichkeit brutaler geworden" sei. Sein politisches Ziel ist der ursozialdemokratische Traum, die Gesellschaft in einer sozial gerechten Welt zusammenzuführen. Niemand in der SPD wird widersprechen, was ihm als "Pakt für Gerechtigkeit" vorschwebt. Wie sein Rezept für eine "Resozialdemokratisierung" aussähe, lässt sich knapp so zusammenfassen: Eine neue Bildungs- und Qualifizierungsoffensive mit gezielten Sonderprogrammen für Problemgruppen.
Das alles sieht Merz, der ebenfalls Probleme mit seiner Partei offenherzig anspricht und sogar einmal deren "Staatsverständnis" anzweifelt, ganz anders. Er stellt den seiner Meinung nach meistens bedenkenlos falsch verwendeten Begriff "soziale Gerechtigkeit" in Frage, ist ein Befürworter der Agenda 2010 und lobt Schröder, weil der den "Mut hatte, die als richtig und notwendig anerkannten Reformen in den Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (...) durchzusetzen". Und er spricht sich dafür aus, privates Kapital im Sozialversicherungssystem und in der Bildung einzusetzen - aus Schreiners Sicht eine Schreckensvorstellung.
Ein anderer, bemerkenswerter Gegensatz tut sich an der Person des langjährigen Parlamentariers, Bundesministers und ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler auf. Merz nennt Geißler als Schöpfer des Begriffs "neoliberaler Turbokapitalismus", der auch zu Schreiners Wortschatz gehört, aber von Merz als "antiliberaler Jargon" abgeschmettert wird. Geißler wiederum hatte bei der öffentlichen Präsentation von Schreiners "Gerechtigkeitslücke" die wohlwollende Laudatio gehalten.
Merz will mit seiner Kapitalismus-Anbetung Verständnis wecken für diese Wirtschaftsordnung, die nur durch Fehlverhalten Einzelner und wenige schlecht geführte Unternehmen in Misskredit gebracht worden sei. Ein "Systemversagen" sieht er nicht. Aber, so hat er wenigstens registriert, viele Menschen erlebten trotzdem das Gegenteil von dem, was mit der Wettbewerbswirtschaft einschließlich der Aktienmärkte angestrebt wird. Trotzdem wirbt er unverdrossen für die Kraft und die Überlegenheit der Marktwirtschaft, der er geradezu blind vertraut. "Die Deutschen", so meint Merz in seinem optimistisch gestimmten Ausblick, "sollten den Kapitalismus verstehen, damit er gerettet werden kann".
Auch Schreiner nörgelt nicht herum, sondern beschreibt Zustände, die von einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) über die Verteilung von Armut und Reichtum in Industrieländern bestätigt worden sind. Am Ende jedes Abschnitts stehen Ansätze für Reformbausteine, wie er sich den Ausweg denkt. Zwei Beispiele: Lernverhältnisse müssten gesetzlich geschützt und so definiert werden, dass der Missbrauch von Praktika ausgeschaltet wird. Mindestlöhne möchte er in der Europäischen Union schrittweise auf 50 bis 60 Prozent der Durchschnittslöhne jedes Mitgliedslands heben und damit "die soziale Dimension Europas stärken".
Friedrich Merz fühlt sich obenauf in seiner kapitalistischen Welt. Ottmar Schreiner kennt das Gefühl, zur Minderheit zu gehören.
Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft.
Piper Verlag, München 2008; 217 S., 19,90 ¤
Die Gerechtigkeitslücke. Wie die Politik die Gesellschaft spaltet.
Propyläen Verlag, Berlin 2008; 271 S., 19,90 ¤