LISSABON-VERTRAG
Verfassungsrichter in Prag billigten EU-Reformvertrag - aber nur teilweise. Seine Zukunft bleibt offen
Das Tauziehen um den Lissabon-Vertrag geht in Prag auch nach der Entscheidung des tschechischen Verfassungsgerichts weiter. Zwar urteilten die Richter am 26. November in Brünn, dass der EU-Reformvertrag nicht im Widerspruch zur tschechischen Verfassung stehe -
allerdings haben sie lediglich sechs strittige Punkte aus dem Vertragswerk auf ihre Konformität hin überprüft und nicht das gesamte Dokument. Damit ist für die Kritiker des Lissabon-Vertrags der Weg für eine weitere Anrufung des höchsten Gerichts offen.
Nach Ansicht von Beobachtern kommt es jetzt zu dem Szenario, das die bürgerlich-konservative Regierung in Prag am meisten gefürchtet hatte: Die Debatte über den Lissabon-Vertrag könnte die EU-Ratspräsidentschaft überschatten, die Premierminister Mirek Topolánek im Januar turnusgemäß übernimmt. Aus Sorge um einen Imageschaden seines Landes hat Topolánek gerade erst einen Burgfrieden mit der starken linksorientierten Opposition geschlossen, damit die Regierung während der Ratspräsidentschaft ein stabiles Mandat hat. Die Oppositionsparteien ließen durchblicken, sie wollten im Interesse der Europäischen Union während des ersten Halbjahres 2009 nicht wie bisher auf einen Sturz von Topolánek hinarbeiten.
Ungeachtet dieses Waffenstillstands gehen die innenpolitischen Auseinandersetzungen über den Lissabon-Vertrag weiter. Vor allem innerhalb der bürgerlich-demokratischen Regierungspartei ODS ist das Vertragswerk umstritten. Der europaskeptische Flügel der Partei mit Staatspräsident Václav Klaus an der Spitze hat sich bereits mehrfach deutlich gegen den Vertrag ausgesprochen. Regierungschef Mirek Topolánek, der ebenfalls der ODS angehört, versucht indes, im Vorfeld der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft eine Eskalation zu verhindern und die Ratifizierung möglichst rasch durchzufechen. Der Streit um den Lissabon-Vertrag spaltet nicht nur die politische Szene, sondern auch die tschechische Bevölkerung. Nach letzten Meinungsumfragen steht mehr als die Hälfte der Befragten dem Reformpapier ablehenend gegenüber. Hintergrund ist eine emotional geführte Debatte um die Bewahrung der Unabhängigkeit des Landes.
Nach der Loslösung von Moskau sei die enge Bindung an Brüssel gleich der nächste Versuch, die neu gewonnene Souveranität zu beschneiden, heißt es aus dem Lager der Europaskeptiker immer wieder.
An dieser Brüssel-Skepsis ist die Ratifizierung bislang gescheitert. Der tschechische Senat, die zweite Kammer des Parlaments, hatte den Vertragsentwurf vor einer Entscheidung an das Verfassungsgericht übergeben. Wenn es jetzt nach dessen zustimmender Äußerung zu einer Abstimmung im Parlament käme, stünden die Chancen für Lissabon sowohl im Senat als auch im Abgeordnetenhaus sehr gut - außer den nicht reformierten Kommunisten und einigen Abgeordneten der ODS herrscht ein parteiübergreifender Konsens zugunsten des Vertragswerkes.
Die schwierigste Aufgabe in dieser Situation kommt Premierminister Mirek Topolánek zu, der den Lissabon-Vertrag bereits unterzeichnet hat und jetzt in Prag um Ratifizierung nachsuchen muss. Seine Position als Regierungschef und ODS-Vorsitzender ist wegen des starken Einflusses der Europa-
skeptiker in der Partei denkbar wackelig. Dennoch muss Topolánek versuchen, die unterschiedlichen Lager zusammenzuhalten. Dabei wählt er einen pragmatischen Ansatz, denn auch er selbst gilt keineswegs als glühender Anhänger einer weiteren europäischen Integration.
In einem Gastbeitrag für die tschechische Tageszeitung "Mlada Fronta Dnes" äußerte Topolánek kürzlich, sein Land werde ohne den Lissabon-Vertrag zu einem Vasallen Moskaus. Es sei für Tschechien besser, "die deutsche Kanzlerin zu küssen anstatt den russischen Bären zu umarmen". Diese nüchterne Position der Regierung wurde auch vor dem tschechischen Verfassungsgericht deutlich. Bei der Anhörung dort trat Vize-Premierminister Alexandr Vondra auf. "Bei der Bilanz aus Aufwand und Ertrag ist der Lissabon-Vertrag für Tschechien ein annehmbares Ergebnis", sagte er betont sachlich.
Wesentlich emotionaler war hingegen das Auftreten von Staatspräsident Klaus, der vor dem Verfassungsgericht ebenfalls seine Position darlegte. "Das Gewicht unseres Landes bei Entscheidungen in der Europäischen Union wird geschwächt. Damit ändern sich die Bedingungen unserer Mitgliedschaft, mit denen sich unsere Bürger beim Referendum über den EU-Beitritt einverstanden erklärt haben", so der Präsident.
Der Lissabon-Vertrag sei der Ausgangspunkt für einen Prozess, an dessen Ende die Europäische Union zum neuen Souverän werde. "Unsere Entscheidung über so grundlegende Dinge wie den Lissabon-Vertrag darf nicht das Ergebnis von ausländischem Druck oder der kurzfristigen Interessen einiger unserer Politiker sein", fügte Klaus hinzu.
Angesichts dieser verhärteten Fronten in der tschechischen Innenpolitik ist auch nach dem Urteilsspruch des Verfassungsgerichts die Zukunft des EU-Vertrags offen. Mit einer raschen Ratifizierung rechnet in Tschechien kaum jemand. Beobachter sprechen von zwei wahrscheinlichen Szenarien: Entweder rufen einzelne Abgeordnete noch einmal das Verfassungsgericht an, um diesmal den gesamten Vertragstext auf seine Konformität mit der Landesverfassung überprüfen zu lassen.
Oder aber die beiden Kammern des Parlaments entscheiden sich ohne diese erneute Prüfung für eine Ratifizierung. In diesem Fall landet der Text zur Unterschrift auf dem Schreibtisch von Präsident Klaus. Der hat in der vergangenen Woche angekündigt, den Lissabon-Vertrag nicht zu unterschreiben, bis er auch in Irland endgültig angenommen worden sei.