klimapaket
Die Meinungen über Ziele und Wege zur CO2-Reduktion gehen in der Union auseinander. Doch die Zeit drängt
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon war so tief besorgt, dass er selbst zur Feder griff. Eindringlich mahnte der Südkoreaner die Staats- und Regierungschefs der EU jüngst in einem Brief, doch bitteschön ein wichtiges Signal an den Rest der Welt zu senden: Europa müsse unbedingt "als Mikrokosmos ein anspruchsvolles Klimaabkommen erreichen".
Die Vereinten Nationen wollen Anfang Dezember beim Weltklimagipfel im polnischen Posen wichtige Weichen stellen, damit 2009 in Kopenhagen das Kioto-Nachfolgeabkommen verabschiedet wird. Doch ausgerechnet an den letzten Tagen der Konferenz, am 11. und 12. Dezember, steht knapp 1.000 Kilometer westlich ein womöglich peinlicher Schlagabtausch über das EU-Klimapaket an. Bei ihrem Brüsseler Gipfel werden Europas Regierungsoberhäupter heftig darum ringen, welche Länder und Branchen denn nun die Milliardenlast des Klimaschutzes tragen müssen. Die Stimmung ist derart aufgeheizt, dass die Einigung scheitern könnte. Das, fürchtet der UN-Generalsekretär, wäre für Posen und den globalen Kampf gegen den Klimawandel ein katastrophaler Rückschlag.
Schon vor der Finanzkrise waren sich die 27 EU-Länder mitnichten grün über die konkrete Ausgestaltung ihrer Klimapolitik. Doch seit eine Rezession droht, geraten die Ziele erst recht unter Druck. Industriebranchen, Verbände und Regierungen wehren sich gegen höhere Kosten für die ohnehin gebeutelte Wirtschaft. Auch quer durch das Europaparlament, das ein Mitspracherecht hat, geht ein tiefer Riss. Jetzt verschob das Parlament seine für den 4. Dezember geplante Abstimmung über das Klimapaket. Die Parlamentarier fürchteten, in eine Falle zu geraten: Die Gefahr sei groß gewesen, hieß es, dass die Regierungschefs die vorher abgestimmten EP-Positionen beim Gipfel einfach ignorieren würden. Der Handlungsspielraum von Straßburg wäre dann nur noch gering gewesen. Das Parlament will daher erst in der Woche nach dem Gipfel über das Paket befinden. Nicht ausgeschlossen wird allerdings, dass auch dann noch einige Fragen offen bleiben. "Wir werden aber alles daran setzen, dass das Paket noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen wird", gibt sich die Vorsitzende des Industrieausschusses, Angelika Niebler (EVP), kämpferisch. Doch sie räumt ein: "Es bestehen noch sehr deutliche Meinungsunterschiede."
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat sich derweil fest vorgenommen, bei seinem letzten Gipfel als Ratspräsident einen Erfolg zu erringen. Vehement hatte der umtriebige EU-Präsident stets erklärt, für die Verabschiedung des Pakets "mit meiner ganzen Person" einzutreten. In Frankreich wird kolportiert, Sarkozy setze womöglich am 27. Dezember einen Sondergipfel an, sollte es im Rat zwei Wochen zuvor keine Einigung geben. Diese Drohung soll offenbar sanften Druck auf die Verhandlungspartner ausüben. Der Franzose drängelt auch deshalb, weil im Januar mit Tschechien eine kleine und zerstrittene EU-Regierung die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Es gilt als ausgemacht in der EU, dass Tschechiens schwacher Premier Mirek Topolanek keinesfalls dort Erfolg haben kann, wo der durchsetzungsstarke Franzose zuvor gescheitert war.
Das EU-Klimapaket gehört zu den ehrgeizigsten und teuersten Gesetzesvorhaben der Legislaturperiode. Bis 2020 will die Gemeinschaft ihren Treibhausgas-Ausstoß um ein Fünftel senken. Der Anteil umweltfreundlicher und erneuerbarer Energien soll zugleich auf 20 Prozent klettern. Geplant sind strengere Auflagen für den Kohlendioxid-Ausstoß von Neuwagen, ein reformierter Emissionshandel und eine differenzierte Lastenverteilung der Emissionsabsenkung quer über die EU.
90 Milliarden Euro, räumte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso ein, kosten die nötigen Maßnahmen, um die harten Umweltauflagen durchzusetzen.
Die Kosten lägen indes um ein Vielfaches höher, wenn Europa nicht handle, warnte der Kommissionschef. Denn dann drohten Dürre, Überschwemmungen und hohe Energiepreise. In Zeiten leerer Auftragsbücher und dümpelnder Aktienkurse zieht dieses Argument aber nur bedingt. Zwar werden hier und da auch in der Wirtschaft Stimmen laut, die für strengere Umweltauflagen plädieren. Gerade in Krisenzeiten müsse man sich auf die Wachstumsfelder Umwelt- und Klimatechnologien konzentrieren, betonte Siemens-Chef Peter Löscher. Sein Kollege Hans-Peter Villis vom Energiekonzern EnBW nannte den Klimawandel einen "enormen Innovationstreiber". Hinter solchen Äußerungen steht der Wunsch der Industrie, wenigstens Planungssicherheit zu bekommen. Schlimmer noch als tatsächliche Belastungen, so sehen es viele Konzerne, sei für langfristige Investitionen wie den Kraftwerksbau die Unsicherheit über mögliche künftige Auflagen.
Viele Länder wehren sich mit Händen und Füßen auch grundsätzlich gegen hohe Mehrbelastungen. Besonders groß ist der Widerstand in Polen und einigen osteuropäischen Staaten, die viele Kohlekraftwerke besitzen, sowie in Italien, Deutschland und Großbritannien, die um ihre Autoindustrie bangen. Deutschland hat zudem Bedenken wegen seiner energieintensiven Schwerindustrie angemeldet.
Ohne einen breit angelegten "innereuropäischen Interessenausgleich", seufzte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nach dem letzten Agrar-Ministertreffen, komme das Gesetzespaket sicher nicht rechtzeitig vom Eis. Will heißen: Die Maßnahmen müssen zusammengestrichen werden, es sind Zugeständnisse zu machen und Sonderwünsche zu erfüllen.
Die französische EU-Ratspräsidentschaft versucht derzeit, alle Aufgeregten mit diversen Angeboten zu besänftigen. Bei den EU-Abgasvorschriften soll es wie beim Emissionshandel Aufschübe und Ausnahmen geben. Der vorläufige französische Kompromiss zum CO2-Ausstoß etwa hält zwar am Ziel fest, dass die Autoflotte eines Herstellers nur noch 120 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer im Schnitt ausstoßen soll. Anders als von der EU-Kommission vorgeschlagen soll es aber eine Einführungsphase geben. Demnach müssen von 2012 an zunächst 65 Prozent der Fahrzeuge die 120-Gramm-Norm erfüllen, ein Jahr später 75 Prozent und von 2014 an 80 Prozent. Ab 2015 würde der Richtwert dann für alle Neuwagen gelten.
Derzeit belastet ein Auto in der EU die Luft durchschnittlich mit knapp 160 Gramm. Auch in weiteren Details wie der Anrechnung von Biosprit oder Öko-Innovationen sind sich Parlament, Rat und Kommission offenbar einig. Das Ziel für 2020, wenn der Ausstoß auf 95 Gramm CO2 pro Kilometer sinken soll, bleibt unangefochten. Unklar sind aber noch die Strafzahlungen bei kleinen Überschreitungen der Grenzwerte.
Ebenso umstritten ist der Emissionshandel. Von 2013 an soll es eine EU-weite Höchstgrenze für den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid geben. Verursacher von Emissionen sollen zur Kasse gebeten werden, indem Verschmutzungsrechte versteigert werden. Jeder Betrieb dürfte dann nur noch jene Menge Kohlendioxid ausstoßen, für die er Rechte besitzt. Danach müssten an der Börse "CO2-Zertifikate" gekauft werden.
Bisher hat der Staat eine begrenzte Ausstattung an Zertifikaten kostenlos ausgeteilt. Die EU-Kommission schlug vor, dass von 2012 an alle Energiekonzerne ihre Lizenzen vollständig ersteigern müssen. Für Industriebetriebe soll die Auktionierung bis 2020 schrittweise eingeführt werden, einige Branchen sollen die Lizenzen aber auch verbilligt oder umsonst erhalten, um sie vor Wettbewerbsnachteilen zu schützen. Welche das sein werden, ist heftig umstritten. So plädieren auch im Europaparlament viele Umweltpolitiker dafür, nur jenen Vorteile zu gewähren, die im globalen Wettbewerb stehen. Damit hätten energieintensive Branchen wie die Zementindustrie das Nachsehen, denn Beton ist ein lokales Geschäft. Die Zementhersteller halten das aber für nicht hinnehmbar und verweisen auf bedrohte Arbeitsplätze, explodierende Preise und mögliche Folgen für die Bauindustrie.
Um das Klimapaket ist eine heiße Lobbyschlacht entbrannt, in der Studien und Expertenmeinungen jedweder Couleur auftauchen. So analysierte das Münstersche EEFA-Institut im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, der Emissionshandel vernichte in zwölf deutschen Industriebranchen bis zum Jahr 2020 etwa 108.000 Arbeitsplätze. Einschließlich indirekter Effekte bei Zulieferern drohten sogar 294.000 Jobs verloren zu gehen.
Eine Studie von Öko-Institut, Fraunhofer ISI und DIW Berlin hält indes kühl die Behauptung dagegen, der Emissionshandel wirke sich auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie kaum aus. Unverhohlen meldete unterdessen Polens Außenminister Radoslaw Sikorski Ansprüche an. Das Problem von Polen: Weil Kraftwerksbetreiber von 2013 an für jede ausgestoßene Tonne Kohlendioxid Verschmutzungsrechte kaufen sollen, befürchtet Warschau ebenso wie eine Reihe osteuropäischer Staaten einen rapiden Anstieg der Energiekosten. Polen bezieht 95 Prozent des Stroms aus Kohle und hat mit einem Veto in Brüssel gedroht, falls das Paket nicht wesentlich geändert werden sollte. Frankreich bietet nun offenbar zeitlich befristete Erleichterungen für Staaten an, die bei der Stromerzeugung zu mehr als 60 Prozent auf Kohle angewiesen sind. Das reicht Polen nicht aus. Warschau bevorzuge ein grundsätzlich anderes System, hieß es, einen sogenannten Benmark-Ansatz. Danach soll jede Variante der Elektrizitätsproduktion - Kohle, Gas, Öl - eine eigene Bewertung und Zuteilung von freien Lizenzen bekommen. Neuerdings droht der EU noch ein ganz anderes Problem: Das anhaltende Gerangel könnte Europa um seine Vorreiterrolle in der globalen Klimapolitik bringen. Der designierte US-Präsident Barack Obama hat angekündigt, die Treibhausgase in den Vereinigten Staaten bis 2020 auf den Stand von 1990 zurückfahren zu wollen, bis 2050 ist eine weitere Reduktion um weitere 80 Prozent vorgesehen. Die USA melden vehement ihren Anspruch auf eine Führung an, die Europa bisher lieb und teuer war - auch mit Blick auf die Marktführerschaft in der Umwelttechnologie.