SITZFRAGE
Bundestag möchte nicht entscheiden, wo das Europaparlament tagen soll
Jeder Europaparlamentarier kennt sie: einen Meter lang, 50 Zentimeter breit und 60 Zentimeter tief - die grüne Blechkiste. Am Freitag vor jeder langen Sitzungswoche des Europarlaments wird sie in Brüssel ein- und in Straßburg wieder ausgepackt. Für Angelika Niebler (CSU) ist das Routine: "Das geht in drei Minuten, das meiste geht ja sowieso übers Netz", sagt die Europaabgeordnete aus Oberbayern. Dennoch ist der Aufwand, wie sie sagt, "gigantisch", wenn nicht nur 785 Parlamentarier nach Straßburg müssen, sondern auch ein riesiger Troß aus schätzungsweise 3.000 Mitarbeitern, Dolmetschern und Journalisten einmal im Monat ins beschauliche Elsass pilgert. Der dreifache Sitz des Europaparlaments in Straßburg, Brüssel und Luxemburg ist schon seit Jahren oder besser Jahrzehnten ein Aufregerthema und gilt vielen als Inbegriff europäischer Geldverschwendung.
Unzählige Anträge, Gerichtsverfahren und interne Debatten hat es daher innerhalb und außerhalb des Europaparlaments zur Lösung dieser Frage schon gegeben. Allein bis zum heutigen Tag haben mehr als 1.262.000 Bürger im Internet auf Initiative der Kampagne "One-seat" für Brüssel als Tagungsort votiert (www.einsitz.de). Doch entscheidend bleibt Artikel 289 des EU-Vertrages, der sinngemäß regelt, dass die Frage des Parlamentssitzes einstimmig von den Mitgliedstaaten beschlossen werden muss. Dass Frankreich einer Verlegung zustimmt, ist äußerst unwahrscheinlich. "Für viele Politiker ist das eine Tabufrage", sagt der französischen Politikwissenschaftler Henri Menudier, "man will das nicht infrage stellen". Genau diese Frage haben die FDP und die Grünen 2008 im Bundestag gestellt und einen eigenen Vorstoß zur Regelung der Sitzfrage gemacht.
Die Grünen forderten in ihrem Antrag ( 16/8051), dass in Zukunft alle Plenarsitzungen in Brüssel stattfinden und der Europäische Rat zum Ausgleich in Straßburg tagen solle. Neben den hohen finanziellen Kosten von rund 200 Millionen Euro ermittelten die Grünen, dass die 3.000 Pendler zwischen Straßburg und Brüssel einen zusätzlichen CO2-Ausstoß von 20.000 Tonnen verursachen würden. Rainder Steenblock von den Grünen ärgert dabei, dass man dies dem Bürger nicht erklären könne: "Das macht die europäische Politik sehr angreifbar", sagte er. Die FDP sucht in ihrem Antrag ( 16/9427) einen anderen Ausweg aus dem Dilemma. Sie möchte, dass die Europaparlamentarier selbst über den Sitz ihres Parlaments entscheiden dürfen. Für die FDP, sagte Daniel Volk in der Debatte am 23. April, sei die Pendelei nicht nur ein Verlust an Arbeitszeit. "Hier werden auch Unmengen an Kapazitäten und damit Steuergelder verschwendet", kritisierte Volk. Es sei daher ein Skandal, dass das EP als einziges Parlament nicht selber entscheiden dürfe, wo es tage, sondern ein "fremdbestimmter Wanderzirkus" sei. Diese Vokabel hört Axel Schäfer (SPD), früher selbst einmal Europaparlamentarier, gar nicht gerne. Das Wort Wanderzirkus zu wählen, sei eine Art Populismus und damit "Wasser auf die Mühlen" all derer, die Vorbehalte gegen Europa hätten - gerade kurz vor der Europawahl. Auch der CDU-Abgeordnete Thomas Dörflinger erinnerte an die rechtlichen Grundlagen und mahnte zur Zurückhaltung: Der Bundestag könne nicht als "Zensor über andere Parlamente urteilen. CDU/CSU und SPD lehnten die Anträge ebenso wie die Linksfraktion ab. Dieter Dehm (Die Linke) bezeichnete sie als "Schaufensteranträge", solange FDP und Grüne mit der Koalition für den Vertrag von Lissabon eintreten würden.
In Straßburg packt Angelika Niebler inzwischen wieder ihre Kiste für Brüssel. Sie findet, dass ein Sitz des Parlaments in Straßburg "die Eigenständigkeit des Parlaments deutlicher machen würde", aber sie weiß mit Blick auf die EU-Agenda ebenso: "Für die EU-Abgeordneten ist es nicht das große Thema."