EUROPAPARLAMENT
In der neuen EU-Volksvertretung gibt es keine eindeutigen Mehrheiten und eine große Zahl kleiner und europaskeptischer Parteien
Zahlenakrobaten haben in diesen Tagen nach der Europawahl in Brüssel und den EU-Hauptstädten ihren großen Auftritt. Ob es um mögliche Koalitionen im Europaparlament (EP) geht, um die Interpretation des Wählerwillens oder Prognosen für die Wahl des Kommissionspräsidenten und des Parlamentspräsidenten - die Wahlbeobachter zücken den Taschenrechner und stellen dabei vor allem eines fest: Eindeutige Mehrheiten wird es in der neu gewählten Volksvertretung nicht geben.
Das Jonglieren mit Prozenten beginnt schon bei der Wahlbeteiligung. Muss sie wirklich "historisch niedrig" genannt werden? Und was bedeutet das für die Legitimation für dieses zwölfte direkt gewählte Europäische Parlament? Vergleicht man die Beteiligung an der ersten Direktwahl 1979 mit den Zahlen von 2009, ist der Unterschied gewaltig:
Vor dreißig Jahren gingen noch 62 Prozent aller Wahlberechtigten zu den Urnen, dieses Mal waren es nur 43,2 Prozent. Rechnet man allerdings die zwölf neuen Mitgliedsländer, die erst nach 1999 beitraten, aus den aktuellen Zahlen heraus, sieht das Ergebnis viel freundlicher aus. Dann ist die Wahlbeteiligung seither um zwei Prozent gestiegen. Deshalb warnt der Wahlforscher Simon Hix von der London School of Economics davor, erneut von einem "historischen Tief" zu sprechen. Auch wenn man alle 27 Mitgliedsstaaten in die Rechnung einbeziehe, sei die Differenz zur Wahl 2004 zu gering, um daraus politische Schlüsse ableiten zu können. "Regierungsparteien haben schlechter abgeschnitten als die Opposition, kleine Parteien hatten mehr Erfolg als große - das ist bei jeder Europawahl so", erklärte Hix bei einer Wahlnachlese in Brüssel. Lediglich bei den Sozialisten treffe dieses Muster nicht zu: "Sie haben auch dort verloren, wo sie in der Opposition sind."
Die Linke ist letztendlich die große Verliererin dieser Europawahl, darin sind sich alle Beobachter einig. Die Sozialisten (PSE) rutschten von 215 auf 161 Sitze ab. DieLinkspartei (GUE/NGL) fiel von 41 auf 32 Sitze zurück. Auch die Liberalen verloren ein Fünftel ihrer Wähler und haben statt 100 nur noch 80 Sitze im neuen EP. Die konservative EVP konnte sich mit 264 Sitzen gut behaupten, obwohl die britischen Tories die Fraktion verlassen haben. Die 25 Tories haben zwar schon für sich genommen Fraktionsstärke. Doch verlangt die Geschäftsordnung des EP, dass die Abgeordneten einer Fraktion aus mindestens sieben EU-Mitgliedsstaaten kommen müssen. Die Suche nach Gleichgesinnten dürfte sich im bunten Haufen der Fraktionslosen schwierig gestalten.
Die 93 "Sonstigen" sind die unbekannte Größe in allen parlamentarischen Rechenspielen. Dort finden sich Rechtsextremisten aus der französischen Front Nationale und der ungarischen Jobbik genauso wie der belgische Vlaams Belang. Politisch heimatlos sind aber auch die tschechische ODS von Mirek Topolanek oder die eurokritische österreichische Partei von Hans-Peter Martin, die man sich sehr wohl in einer Fraktion mit den britischen Konservativen vorstellen könnte. Ob sich aber Partner aus weiteren vier EU-Ländern finden lassen und wie diese zusammengewürfelte Gruppe sich in Abstimmungen verhalten wird, ist völlig offen. Die meisten Analysten widersprechen der Ansicht, dass sich die Wähler dieses Mal stärker euroskeptischen Parteien zugewandt hätten. Die Fraktion, die für mehr Eigenständigkeit der Nationalstaaten eintritt (UEN), fiel von 44 auf 35 Sitze. Die Euroskeptiker (IND/DEM) schrumpften von 22 auf 18 Abgeordnete. Die neue Partei Libertas des irischen Unternehmers Declan Ganley, die mit einem dezidiert eurokritischen Programm europaweit angetreten war, brachte nur einen einzigen Abgeordneten ins EU-Parlament. Nach ersten Kalkulationen des ehemaligen EP-Generalsekretärs Julian Priestley haben die Parteien, die den neuen Lissabon-Vertrag unterstützen, 80 Prozent der Parlamentssitze gewonnen.
In diesem Zusammenhang misst Priestley einer Aussage von EVP-Parteichef Winfried Martens große Bedeutung zu: "Wir sollten im Europaparlament ein Bündnis mit all jenen zustande bringen, die der europäischen Integration verpflichtet sind", hatte Martens nach der Wahl gefordert. Die große Koalition aus Sozialisten und Konservativen, die die vergangene Wahlperiode beherrschte, hat nach Überzeugung der Analysten ausgedient. "Die treibende Kraft dafür war die Situation in Berlin - die wird sich im September ändern", glaubt Simon Hix. Hinzu kommt, dass der deutsche Einfluss in der neuen konservativen EVP-Fraktion abnehmen wird. Die Union hat nur sieben Sitze mehr als die Berlusconi-Partei.
Deshalb hat der italienische Premier bereits den Anspruch seines Parteifreunds Mario Mauro auf das Amt des EVP-Vorsitzenden angemeldet. Die meisten Chancen werden aber dem ehemaligen polnischen Premier Jerzy Buzek eingeräumt. Graham Watson will kein weiteres Mal als liberaler Fraktionschef kandidieren. Er wird sich um das Amt des Parlamentspräsidenten bewerben. Den Konservativen schlägt er einen Deal vor: Wenn sie ihn unterstützen, wird er Manuel Barroso für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsident mitwählen - aber erst, wenn der Lissabon-Vertrag in Kraft ist.
Doch die Chancen, dass der neue Vertrag bis Jahresende kommt, sind mit der Europawahl nicht gestiegen. Zwar haben die Iren mit großer Mehrheit proeuropäische Parteien gewählt. Inzwischen gilt ihre Zustimmung zum Reformvertrag bei einem zweiten Referendum im Herbst als ziemlich sicher. Doch Ungemach droht jetzt aus Großbritannien: Tory-Chef David Cameron will im Fall eines konservativen Wahlsiegs ein Referendum zum Lissabon-Vertrag abhalten, obwohl das Unterhaus ihn bereits abgesegnet hat. Europäische Politik wird in den kommenden Monaten eine Gleichung mit ganz vielen Unbekannten - und das nicht nur im Europaparlament.