GROSSBRITANNIEN
Die Zukunft der Regierung hängt am seidenen Faden. Gordon Brown gibt sich nicht geschlagen und kündigt erstmal eine Verfassungsreform an
Gordon Brown hat den Sturm überlebt, der durch niederschmetternde Ergebnisse der Lokal- wie Europawahlen ausgelöst wurde. Bei den Europawahlen konnte er nur 15,3 Prozent der Stimmen auf seine Labour-Partei vereinigen - ein desaströses Ergebnis. Doch beim ritualisierten Schlagabtausch mit dem Führer der Oppsosition, der allwöchentlichen "Fragestunde des Premiers", demonstrierte der Regierungschef am 10. Juni Gelassenheit, als ob es die tiefsitzenden Zweifel an seiner Eignung für den Spitzenjob nie gegeben hätte.
Der Premier versuchte die Initiative zurückzugewinnen, indem er ein eindrucksvolles Programm parlamentarischer und poltischer Reformen vorlegte: Ein Ende parlamentarischer Selbstregulierung, um dem Missbrauch von Spesen einen Riegel vorzuschieben, einen Verhaltenskodex für Abgeordnete und das Recht für Wähler, den Parlamentarier, der gegen die Regeln verstößt, zu entlassen. Angesichts politischer Einigkeit dürfte es möglich sein, diese Pläne vor der nächsten Wahl zu verabschieden.
Andere Ankündigungen Browns - mehr Macht fürs Parlament, Reform des Oberhauses, Dezentralisierung des politischen Systems, eine Reform des Wahlrechts - sind lediglich Absichtserklärungen. Weder reicht die Zeit, noch ist klar, wer über diesen weitreichenden Bruch mit der Tradition entscheiden soll: die Wähler in einem Referendum, das alte oder das neue Parlament? Geplant ist, dass die Briten 2010 ein neues Parlament wählen sollen. Auch stellt sich die Frage, warum Labour zwölf Jahre lang diese politisch wichtigen Projekte links liegen gelassen hat. Gordon Browns Versuch, die Dringlichkeit einer umfassenden Verfassungsreform mit dem Spesenskandal zu begründen, stößt auf Skepsis. Der Leitartikel der Times bemerkte dazu sarkastisch, in ein paar Jahren dürften "Geschichtslehrer Schwierigkeiten haben, ihren Schülern die Existenz permanenter Koalitionsregierungen als Folge des Verhältniswahlrechtes mit dem Hinweis darauf zu erklären, dass Abgeordnete einmal zuviel Geld für einen Flachschirm TV beantragt hatten".
Was immer Gordon Brown unternehmen wird, er ist enorm geschwächt. Sein Schicksal vermag er nicht mehr selbst zu bestimmen. Der "Bauernaufstand" der Hinterbänkler seiner Partei am 8. Juni scheiterte lediglich aus Mangel an einer Führungsfigur; die Rücktrittswelle von Kabinettsmitgliedern war keine Verschwörung, sondern erwies sich als unkoordiniert. Viele seiner Minister, die abtraten, waren durch den Spesenskandal beschädigt. Gleichwohl ist Browns politisches Überleben immer noch nicht absolut garantiert.
Weitere Nackenschläge bei Nachwahlen zum Unterhaus nach den Rücktritten des Parlamentspräsidenten Michel Martin und eines weiteren Abgeordneten könnten erneut Panik und Rufe nach einem Wechsel auslösen. Zumal Umfragen signalisieren, dass Labour unter jedem anderen Parteiführer besser abschneiden würde als unter Brown.
Die Macht innerhalb der Regierung hat sich dramatisch verschoben. Nichts geht ohne Peter Mandelson, auf den Brown auf Gedeih und Verderb angewiesen ist. Im vergangenen Herbst hatte Mandelson sein Amt als Europakommissar aufgegeben, um als Lord ins Oberhaus und als Wirtschaftsminister ins Kabinett einzuziehen. Mandelson verhinderte den Sturz Browns; er schwor die meisten "Blairites" unter den Ministern auf seine Linie ein, trägt nun, als sichtbaren Ausdruck seiner Sonderstellung, den Titel "First Secretary of State" und ist verantwortlich für ein Superministerium.
14 Jahre hatte Gordon Brown mit Mandelson kein Wort gewechselt, weil der sich 1994 für Tony Blair als den besseren Parteiführer ausgesprochen hatte. Den tiefen Groll konnte Brown erst in der Stunde höchster Not überwinden. Der ehemalige "Prinz der Dunkelheit", als politischer Strippenzieher verteufelt, bekannt für Präsentationsgeschick und strategische Fähigkeiten, verlieh dem Kabinett Browns bitter benötigte Gravitas und Kompetenz. Was ihm alle bescheinigen, ob Freunde, politische Gegner oder Vertreter des linken Labourflügels.
Auf Brown aber trifft das Wort, "im Amt, aber nicht an der Macht" zu, das 1993 auf John Major, den letzten konservativen Premier gemünzt war. Er kann fortan niemanden in seinem Kabinett entlassen oder auf einen anderen Job bugsieren. Minister, die er innerhalb seines Kabinetts verschieben wollte, verweigerten den Gehorsam, darunter Außenminister David Milliband und Schatzkanzler Alistair Darling.
Auch von der Opposition weht ihm der Wind scharf ins Gesicht - vor allem in Sachen Europa. Die britischen Konservativen unter Oppositionsführer David Cameron waren mit 27 Prozent die Gewinner der Europawahl. Sie fordern bereits seit längerem eine Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon. So könnte die Zukunft des EU-Vertrages möglicherweise auch in Großbritannien entschieden werden. Denn sollte es noch vor dem Referendum der Iren über den EU-Reformvertrag wider Erwarten zu Neuwahlen kommen, könnte die Regierung für den Fall eines Tory-Sieges die Wähler neu entscheiden lassen. Der Erfolg der europafeindlichen United Kingdom Indenpendence Partei (UKIP) mit 16,9 Prozent bei den Europawahlen ist nur ein Indiz dafür, dass der neue EU-Vertrag in Großbritannien keine wirkliche Lobby hat. Bislang bleiben dies jedoch Spekulationen - mit vielen Unbekannten.