Deutsche Geschichte
Lothar Galls souveräne Biografie über Walther Rathenau
Es sind unruhige Jahre zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkriegs: Jahre des Aufbruchs und der Suche - nach neuen Ausdrucksformen in der Kunst, nach gesellschaftlicher Erneuerung. Alte Gewissheiten beginnen zu bröckeln, ohne dass neue Verbindlichkeiten gelten würden. Zu den prägendsten Persönlichkeiten dieser Phase zwischen Tradition und Moderne zählt Walther Rathenau. Präsent ist er uns heute als zeitweiliger Außenminister der jungen Weimarer Republik, der einem Attentat zum Opfer fiel. Das aber ist nur ein schmaler Ausschnitt aus dem Leben eines Mannes, der in der wilhelminischen Ära eine so zentrale Figur war: prominent, umstritten und höchst einflussreich.
Über "den ganzen" Walther Rathenau hat der Historiker Lothar Gall ein gleichermaßen erhellendes wie spannend zu lesendes Buch geschrieben, wobei schon der Untertitel zurecht darauf hinweist, dass der Leser mehr erwarten darf als eine klassische Biografie. Denn Gall - er gilt als brillanter Experte auf den Gebieten der Bismarck-Forschung und der deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte - zeichnet nicht einfach den Lebensweg Rathenaus nach, sondern er leuchtet gleich auch noch höchst kenntnisreich die gesamte Szenerie aus, vor der sich dieses Leben abspielt - die politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Strömungen der wilhelminischen und nachwilhelminischen Jahre.
Von den Startbedingungen hätte es das Schicksal wirklich schlechter mit Rathenau meinen können. Als er am 29. September 1867 geboren wird, ist sein Vater gerade im Begriff, zu einem der erfolgreichsten Industriellen Europas aufzusteigen. Rathenau wächst also materiell gesehen in mehr als gesicherten Verhältnissen auf und sein Lebensweg scheint klar konturiert - als Erbe des väterlichen Unternehmensimperiums. Tatsächlich kämpft er aber lange darum - Gall vertritt die These: sein ganzes Leben lang -, aus dem überdimensionalen Erfolgsschatten des Vaters zu treten. Teilweise erfüllt der Sohn zwar die väterlichen wie gesellschaftliche Erwartungen, er wird erfolgreicher Industrieller und Bankier. Doch er betätigt sich zunehmend auch literarisch-publizistisch und wird damit zu einer Kristallisationsfigur der kulturellen Aufbruchbewegung.
Rathenau lebt sein Leben als Doppelexistenz, was Stefan Zweig zu der Bemerkung veranlasste, er sei "ein geradezu amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmensch und Denker". Seine Zeitgenossen finden das Unentschiedene an Rathenau höchst interessant und zugleich auch wieder höchst suspekt. Dass er Jude ist, macht ihm ebenfalls zu schaffen: Obschon zur wirtschaftlichen, intellektuellen und politischen Elite des Landes zählend, bekommt er mehr oder minder offen Diskriminierung zu spüren.
Rathenau war Zeit seines Lebens wohl nirgendwo "richtig" zuhause, er war ein ewiger Außenseiter, ein Suchender, mehr Beobachter und Kommentator denn aktiv Gestaltender, ein Mann voller Widersprüche und gerade damit eine Symbolfigur seiner Zeit -das jedenfalls ist Lothar Galls Quintessenz.
Zum Staatsmann wird Walther Rathenau erst spät, bezeichnenderweise erst dann, als die Wilhelminische Phase zu Ende war. In der jungen Weimarer Demokratie hat er für nicht einmal volle fünf Monate das Amt des Außenministers inne und wird am 24. Juni 1924 von rechtsextremen Fanatikern ermordet. Gerade dieser gewaltsame Tod hat Walther Rathenau in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen und der Nachwelt zu einer demokratischen Idealfigur werden lassen. Die aber ist er nie gewesen.
Und das Private? Davon ist recht wenig bekannt, und auch in Galls Buch erfährt man darüber kaum Neues. Klatsch und Tratsch sind nicht die Felder, auf denen sich der renommierte Autor zu tummeln gedenkt. Nicht um den Privatmann Rathenau geht es ihm, sondern um die öffentliche Person als Produkt einer Epoche. Ein hoher Anspruch - Gall löst ihn souverän ein.
Walther Rathenau. Portrait einer Epoche.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 298 S., 22,90 ¤