BIOGRAFIE
Jörg Nagler hat ein vielgestaltiges Porträt über den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln vorgelegt
Lincoln lebt! Und zwar durch Barack Obama. Zumindest zog die Presse permanent Parallelen zwischen dem Charisma, Charakter und Charme des damals und des derzeit beliebtesten US-Präsidenten. Obama selbst hat diesen Vergleich schon früh heraufbeschworen. Mit Worten der Bewunderung und symbolischen Gesten erinnert er seit seiner Senatorenzeit in Illinois immer wieder an das Leben und die Leistungen des Sklavenbefreiers und Einheitsstifters. In Lincoln sieht ja nicht nur er, sondern die ganze Nation ein Vorbild an Redlichkeit. Bei den Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag in diesem Frühjahr erklärte Obama den "großen Emanzipator" denn auch für "unsterblich". Mittlerweile verschmelzen bei Obama tatsächliche und taktische Verehrung so sehr, dass man sich weder von seinem noch von Lincolns politischem und persönlichem Profil ein wirklich klares Bild machen kann.
Vom Lincoln-Fieber und Obama-Rausch abkühlen können da nur ebenso nüchterne wie kritische Biografien. Eine solche Lebensbeschreibung hat der in Jena lehrende Nordamerikanist Jörg Nagler vorgelegt. Das wurde auch Zeit. Während in den Regalen der Library of Congress mehr als 16.000 Titel zu Lincoln verfügbar sind, herrscht in den hiesigen Bibliotheken ein deutlicher Mangel an deutschsprachigen Darstellungen. Selbst die glänzende Studie "Team of Rivals" von der Pulitzerpreisträgerin Doris Kearns Goodwin hielt man hierzulande nicht der Übersetzung wert. Ohne das Jubeljahr gäbe es wohl auch Naglers äußerst vielschichtig konturiertes Lincoln-Porträt nicht. Und das wäre bedauerlich.
Der Experte für den Amerikanischen Bürgerkrieg nimmt sowohl die Licht- wie auch die Schattenseiten einer der faszinierendsten Gestalten der Weltgeschichte in den Blick. Jenseits märchenhafter Mythen erzählt er eindrücklich, aber nie verklärend von Lincolns rauer Kindheit an der Frontier, dem wildwüchsigen Grenzland der Unionsstaaten im Westen, wo Muskeln mehr zählten als geistige Kräfte. Lincoln besaß beides, emanzipierte sich dank intensiver Lektüre und unstillbarer Neugier frühzeitig von seinem einfachen Elternhaus und brachte es als Autodidakt rasch zum angesehenen und vielbeschäftigten Anwalt in Springfield (Illinois). Persönlicher Ehrgeiz und politischer Patriotismus ebneten ihm mit 25 Jahren schließlich den Weg ins Parlament von Illinois, wo er seine einmalige Karriere startete.
Nagler zeigt anhand dieses Aufstiegs nicht nur Lincolns rhetorisch wie strategisch brillanten Kämpfe mit den politischen Rivalen innerhalb und außerhalb seiner Partei, sondern vor allem das Werden und den Wandel seiner Überzeugungen. Mit allen Höhen und Tiefen. Dass Lincoln "seine bescheidene Herkunft ins politische Kalkül" zog, um "Sympathie und Mitgefühl bei den Wählern zu erzeugen", erwähnt Nagler ebenso wie die unfairen Tricks seines Wahlkampfteams beim Nominierungsparteitag in Chicago 1860. Auch die "Aufhebung und Einschränkung elementarer Bürgerrechte" während des Sezessionskriegs beschönigt der Autor genauso wenig wie Lincolns unkritische Haltung zur totalen Kriegführung seiner Generäle Sherman und Sheridan, die letztlich die Südstaaten in die Knie gezwungen haben.
Was dieses Buch neben den sehr lebendigen Schilderungen des politischen und privaten Alltags des 14. Präsidenten der USA auszeichnet, ist in erster Linie das differenzierte und ausgewogene Urteil über Lincolns Haltung zur Rassenfrage. Nagler gibt nicht vor, sie endgültig durchschaut zu haben. Aber er bemüht sich, die religiösen wie naturrechtlichen Wurzeln seines emanzipatorischen Denkens ebenso weit auszuloten wie die politische Instrumentalisierung der Sklavenbefreiung.
Ohne Zweifel verdammte Lincoln zeit seines Lebens die Sklaverei aus moralischen Motiven, doch der Zusammenhalt der Nation war ihm stets wichtiger als die Befreiung seiner schwarzen Mitbürger, wie viele seiner Reden bezeugen. Lange Zeit spielte er mit dem Gedanken die vier Millionen Schwarzen wieder nach Afrika zurückzuschicken. Doch als er auch infolge seiner eigenen Emanzipationspolitik diesen Plan verwerfen musste, war er lediglich dazu bereit, schwarzen Bürgerkriegssoldaten und einigen "intelligenten" Afroamerikanern mehr Bürgerrechte einzuräumen.
Obgleich Lincoln sich vom Rassedenken seiner Zeit nicht frei machen konnte, war er dennoch ein aufrichtiger Streiter für die Freiheit. Diese Mehrdeutigkeiten und Widersprüche arbeitet Nagler in seiner Biografie klar heraus. Nur sie erklären auch Lincolns politischen Erfolg. Denn weder die radikalen Sklavereigegner im Norden noch die unnachgiebigen Sklavenhalter im Süden hätten mit ihren kompromisslosen Positionen die Union zusammenhalten und die amerikanische Demokratie festigen können. Insofern gebührt Lincoln nach wie vor Respekt und Anerkennung. Obama muss sich diese Meriten noch verdienen. Die Beschwörung des Lincoln-Mythos allein wird nicht reichen.
Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident.
C.H. Beck Verlag, München 2009, 464 S., 26,90 ¤