IRAK
Unter Saddam Hussein wurden Kurden und Schiiten unterdrückt, verfolgt, ermordet. Diese Zeit wird nun aufgearbeitet
Schon vor dem Abflug aus dem kurdischen Erbil herrscht nervöse Anspannung, die sich steigert, je mehr sich das Flugzeug der südirakischen Stadt Nadjaf nähert. Besonders die weiblichen Passagiere entwickeln eine rege Geschäftigkeit, probieren Tücher an, verschleiern sich. Manche hüllen sich gar in einen bodenlangen, schwarzen Mantel. Zum ersten Mal fliegt eine Delegation der kurdischen Regionalregierung aus dem kurdischen Norden in den schiitischen Südirak. "Wie werden sie uns aufnehmen?", ist die alles beherrschende Frage, "wie werden sie sein?" Es ist, als ob die 22 Delegationsmitglieder in ein fremdes, unbekanntes Land reisen. Und ein wenig ist es das auch. Die meisten hatten noch nie Kontakt mit ihren schiitischen Landsleuten im Süden. Nach den Verfolgungen des Saddam-Regimes hat die Uno Anfang der 1990er Jahre Flugverbotszonen zum Schutz der Bevölkerung vor Übergriffen des Gewaltherrschers verhängt - eine im Süden, eine im Norden. Zwischen den knapp 700 Kilometern von Erbil nach Nadjaf lagen seitdem Welten. Als die gecharterte Boeing 737 aus Irak-Kurdistan auf dem gerade fertig gestellten Flughafen landet, sieht man schon das Empfangskomitee. Ausschließlich Männer mit schwarzen und weißen Turbanen auf dem Kopf und langen Umhängen stehen am Rande der Rollbahn. Der Anblick macht klar: Wir sind in "Irak-Schiitistan", in der heiligen Stadt Nadjaf. Religionsgründer Imam Ali liegt hier begraben. Nadjaf hat den größten schiitischen Friedhof der Welt und die höchste, religiös schiitische Instanz, die Religionsschule Hawsa. Doch nicht nur das. In den sechs Jahren seit dem Sturz Saddam Husseins wurden in der Provinz unzählige Massengräber entdeckt. Drei davon beherbergen Leichen von Kurden. Chnar Saad Abdullah ist gekommen, um die Toten heim nach Kurdistan, in die autonome Region im Nordirak, zu holen.
Dass sie so jung sei, habe Vor- und Nachteile, sagt die 36-jährige Ministerin aus Kurdistans Hauptstadt Erbil. Frau Saad Abdullah ist Soziologin und hatte gerade ihre Doktorarbeit über die Massenvernichtung der Kurden durch Saddam Hussein beendet, als man sie im Mai 2006 zur kurdischen Ministerin berief, zuständig für die Aufarbeitung von Anfal. Ein Indiz dafür, wie wichtig ihren Landsleuten die Aufarbeitung dieser sieben Monate im Jahr 1988 ist, die von Saddam Hussein "Anfal" genannt wurden, nach dem Titel einer Sure im Koran, in dem es um die Behandlung von Kriegsbeute geht: 182.000 irakische Kurden sollen damals auf zumeist grausamste Art und Weise umgebracht worden sein. Die Ministerin hat alles dokumentiert, ein Archiv in Erbil gegründet. Zusammen mit einem Studienkollegen lieferte sie die Akten und Unterlagen für den noch laufenden Prozess im Sondertribunal für die Verbrechen Saddam Husseins. Auch wenn dieser 2006 hingerichtet wurde, wird weiter verhandelt. Sein Cousin, der schlechthin "Chemie Ali" genannt wird und die Giftgasangriffe gegen die Kurden organisierte, ist ebenfalls bereits zum Tode verurteilt, steht aber weiterhin vor Gericht. Insgesamt zwölf Verfahren sind vorbereitet. Erst drei kamen zum Abschluss.
Die militärische Operation gegen die Kurden begann am 23. Februar 1988, als die irakische Armee ihren Streifzug durch das Grenzgebiet zu Iran startete und zunächst das Hauptquartier der PUK (Patriotische Union Kurdistans), der Partei des heutigen irakischen Staatspräsidenten Tschalal Talabani, angriff. Ein vernichtender Krieg zwischen Iran und Irak mit über einer Million Toten tobte seit acht Jahren und Saddam Hussein kam zunehmend in Bedrängnis. Vor Gericht führten der Ex-Diktator und seine Mitangeklagten später an, dass kurdische Rebellen mit dem damaligen Kriegsgegner Iran zusammenarbeiteten und die Aktion folglich als Kriegshandlung gesehen werden müsste. Die Kurden wiederum werten die Vernichtungsaktion als Racheakt, da nicht in erster Linie ihre Peschmerga-Kämpfer davon betroffen waren, sondern zu großen Teilen die Zivilbevölkerung. Zum ersten Mal in der Geschichte setzte eine Regierung chemische Waffen gegen ihre eigene Bevölkerung ein. Senfgas und Sarin wurden über den Kurdengebieten abgeworfen. Als Symbol hierfür gilt das Dorf Halabdscha südöstlich von Suleimanija, wo im März 1988 auf einen Schlag 5.000 Einwohner starben.
Insgesamt acht "Säuberungsaktionen" führte die irakische Armee bis Ende August 1988 gegen die Kurden durch, auch noch, nachdem der Krieg gegen Iran zu Ende war. Die Systematik, mit der Menschen deportiert, selektiert und ermordet wurden, erinnerte an die Vernichtungsmaschinerie Nazi-Deutschlands. "Saddam hat bei Hitler abgeguckt", kommentiert Yousif Dzayi, der Studienkollege der Ministerin, den Massenmord an seinen Landsleuten: "Es war der Holocaust an den Kurden." Yousif hat herausgefunden und belegt, dass Listen von Deportierten existieren, die in Sammellagern voneinander getrennt wurden. Einige wurden in die Wüste im Südwesten des Landes transportiert, verhungerten dort elend oder konnten nur mit Not und heimlicher Hilfe von in der Nähe wohnenden Nomaden überleben. Viele jedoch wurden irgendwo in den Süden verfrachtet, ermordet und in Massengräbern verscharrt. 286 solcher Gräber hat man bis jetzt gefunden. Eines davon ist nun in Nadjaf geöffnet worden. Ministerin Chnar Abdullah und ihre Delegation stehen vor 150 weißen Leichensäcken im Al Sadr Universitätshospital, das sich auf forensische Untersuchungen von Massengräbern spezialisiert hat. "Wir können noch nicht alle Gräber öffnen", sagt Amir Ibrahim, der die Forschungsabteilung leitet. Ihre technischen, menschlichen und finanziellen Kapazitäten seien begrenzt und die Angehörigen der Ermordeten würden leicht in Panik verfallen, wenn sie wüssten, wo die Gräber sich befänden oder vor den offenen Gräbern stünden. Denn nach dem islamischen Glauben gelten Menschen so lange als lebendig, bis ihre Körper ordentlich bestattet sind. Das hat enorme Konsequenzen für die Hinterbliebenen. Witwen sind keine Witwen, so lange ihre Männer nicht identifiziert und beerdigt werden. Sie dürfen nicht wieder heiraten und auch keine Rente beziehen.
"Die Leute sind manchmal sehr ungeduldig", bestätigt Heeman Jamil die Aussage ihres Kollegen in Nadjaf. Die junge Kurdin ist das Pendant Amir Ibrahims in Erbil und Expertin für Massengräber im Innenministerium der dortigen Regionalregierung. Zwar habe das irakische Ministerium für Menschenrechte in Bagdad 1,8 Milliarden Dinar (etwa 620.000 Euro) für die Erforschung und Sicherung von Massengräbern im ganzen Land bereit gestellt, sagt sie, doch das reiche bei weitem nicht aus, um die hunderttausenden Toten zu bestimmen, zu bergen und Entschädigungen zu bezahlen. Außerdem bräuchten sie mehr internationale Hilfe für die wissenschaftliche Aufarbeitung. Denn nicht nur die Kurden haben unter dem ehemaligen Gewaltherrscher gelitten. Tausende und Abertausende Schiiten sind ebenfalls von Saddam und seinen Schergen ermordet und in Massengräbern verscharrt worden. Das gemeinsame, grausame Schicksal und seine Aufarbeitung bringt Schiiten und Kurden in der Post-Saddam-Ära einander näher. Der Austausch in Nadjaf ist mit ein erster Schritt, über die Regierungsbeteiligung hinaus, auch auf anderen Ebenen enger zusammenzuarbeiten. Etwas überrascht spricht Heeman Jamil voller Anerkennung über die qualifizierte Arbeit der schiitischen Kollegen. Aufgrund ihrer präzisen Voruntersuchungen habe sie feststellen können, woher die Toten stammten. Inzwischen sind ihre Überreste nach Kurdistan überführt und in Sumut/Rizgari in der Provinz Suleimanija bestattet worden.
Parallel dazu hat sich eine kontroverse Diskussion um Gedenkstätten zum Genozid an den Kurden entwickelt. Aufarbeitung der Vergangenheit ist die eine Sache, Gedenken eine andere. Und doch liegt beides eng beieinander. Sind die Toten geborgen und beerdigt, wollen die Hinterbliebenen etwas gegen das Vergessen tun. Es gibt Stimmen, die sich für ein allumfassendes Denkmal aussprechen, Stimmen, die eher für Gedenkstätten an den Orten plädieren, an denen der Genozid geschah. Das Berliner Zentrum Moderner Orient organisierte unlängst eine Konferenz, zu der es Anfal-Überlebende einlud und ihnen Beispiele von Gedenkstätten in Deutschland zeigte.
Ziemlich genau drei Monate nach den Regionalwahlen, ist Ende Oktober die kurdische Regierung neu gebildet worden. Chnar Saad Abdullah wird ihr nicht mehr angehören. Der Diskurs um das "richtige Gedenken" wird die Kurden aber auch unter dem neuen Minister für Anfal, Majid Muhammad Amin, wohl noch lange beschäftigen.
Die Autorin arbeitet als Journalistin im Irak.