BOSNIEN
Hatidza Mehmedovic kämpft gegen das Vergessen
Wenn sie den Raum betritt, richten sich alle Blicke auf sie. Dabei ist Hatidza Mehmedovic eigentlich nicht charismatisch, schon gar keine Agitatorin. Die 57-jährige Frau strahlt eine natürliche Würde und Entschlossenheit aus. Die Haare sind streng nach hinten gebunden. Die Warmherzigkeit der Stimme überrascht. Die Präsidentin des Müttervereins in Srebrenica ist eine eindrückliche Gestalt. Von der bosniakischen Bevölkerung wird sie geliebt, von ihren Gegnern wegen ihrer unerbittlichen Fragen gefürchtet. Und jetzt ist sie zum Prozessauftakt gegen den dort angeklagten Radovan Karadzic nach Den Haag gefahren.
Die politische Symbolgestalt der Frauen von Srebrenica war einmal eine ganz "einfache und unscheinbare Hausfrau", wie sie selbst bemerkt. Damals, vor dem Krieg in den 1980er Jahren, als das Leben in Srebrenica noch in Ordnung war. Sie hatte geheiratet, zwei Jungen geboren, mit ihrem Mann ein schmuckes Haus oberhalb von Srebrenica gebaut. Mit herrlichem Blick auf die eng aneinander liegenden Häuser im Tal und auf die vom Laubwald bewachsenen Berge.
Und dann brach das Unglück herein. Die über drei Jahre dauernde Belagerung durch die jugoslawische Volksarmee, den ständigen Granatbeschuss überlebte die Familie in ihrem Haus. "Wir haben den letzten Quadratzentimeter im Garten für den Gemüseanbau ausgenützt." Als sie am 11. Juli 1995 mit den anderen Bewohnern nach Potocari in das UN-Lager fliehen mussten, hofften sie noch, zu überleben. Doch dann ließ General Ratko Mladic die Frauen und Kinder trennen, die UN-Soldaten unternahmen nichts. "Meine 18- und 20- jährigen Söhne wurden mit dem Vater den Männern zugeteilt, wie meine Brüder und andere Verwandte. Keiner hat überlebt."
2002 kam sie nach Srebrenica zurück. Eine Hilfsorganisation half ihr, die Ruine ihres Hauses wieder aufzubauen, auf dem Grundstück mit den drei Bäumchen im Garten, das heute in der Republika Srpska, dem serbischen Teil Bosniens liegt. "Die Bäume haben meine Söhne und mein Mann noch gepflanzt." Sie haben inzwischen eine stattliche Höhe erreicht und waren für Hatidza Mehemdovic lange Zeit die einzige Erinnerung an die drei. Heute weiß sie immerhin, dass das Skelett ihres einen Sohnes schon 2002 in dem Massengrab Pilice bei Zvornik gefunden worden war. Die DNA-Untersuchungen der Kommission für vermisste Personen, die in Tuzla ein Institut eingerichtet hat, sind jedoch langwierig. Erst 2007 hatte sie Gewißheit. Auch Teile des Skelettes ihres Mannes sind inzwischen gefunden und identifiziert worden. Von dem zweiten Sohn jedoch fehlt noch jede Spur. "Ich kann meinen Mann und den Sohn noch nicht begraben, denn ich weiß ja nicht, welchem der beiden Söhne das Skelett gehört. Und wir Hinterbliebenen haben ausgemacht, dass erst, wenn 70 Prozent des Skelettes gefunden worden sind, das Begräbnis stattfinden darf. Von dem Skelett meines Mannes sind erst 50 Prozent gefunden worden."
Sie hat dies schon oft berichtet. Sie versucht trotz ihrer Rührung sachlich zu sein, so wie sie auch als Präsidentin des Müttervereins agiert. Als Vertreterin der Gesellschaft für bedrohte Völker vor Ort hat sie Spenden von rund 250.000 Euro an Frauen mit ähnlichem Schicksal verteilt, die mit ihren nun halbwüchsigen oder schon erwachsenen Kindern in die Dörfer rund um Srebrenica zurückgekehrt sind. In Form von lebendem Vieh, Kühen, Schafen und Ziegen, Kleinsttraktoren und anderem landwirtschaftlichen Gerät.
"Von den Millionen, die angeblich nach Srebrenica geflossen sind, haben die wirklich Betroffenen rund 1.000 festen Rückkehrerinnen fast nichts abbekommen", sagt Hatidza Mehmedovic etwas resigniert. 3.000 bis 4.000 andere Rückkehrer lebten im Sommer hier, hätten ihre Häuser wieder aufgebaut, seien aber in der bosnisch-kroatischen Föderation und nicht in der Republika Srpska angemeldet, um krankenversichert zu bleiben. Denn die serbische Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina verwehre den bosniakischen Rückkehrerinnen die medizinische Versorgung und zahle keinerlei Renten. Die Kinder gingen hier zwar in die Grundschule, doch für die weiterführenden Schulen müssten sie nach Sarajevo oder Tuzla, also in die bosniakisch-kroatische Föderation gehen.
"Wir leben immer noch unter der Herrschaft von Radovan Karadzic", sagt Mehmedovic. Die meisten Polizisten in Srebrenica seien Serben, "die schon damals, bei den Massakern, beim Genozid dabei waren." Das Wort Genozid dürfe übrigens vor den bosnisch-serbischen Behörden nicht ausgesprochen werden, bemerkt sie nebenbei. Der Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag habe zwar die bosnisch-serbische Polizei in ihrem Urteil über Srebrenica als Schuldige des Genozids bezeichnet, als sie dies aber gegenüber einem Polizisten tat, habe der sie angezeigt. Jetzt müsse sie sich vor einem serbischen Gericht in Banja Luka verantworten.
Alles in Srebrenica atme noch immer die Politik von Radovan Karadzic, sagt Hatidza Mehmedovic. Er sei von der internationalen Gemeinschaft belohnt worden, habe es geschafft, Bosnien zu teilen und einen serbischen Herrschaftsbereich zu errichten. Sein Geist regiere weiter in Srebrenica, "wir leben in einem Ghetto". Die Geschichte werde geklittert, die serbischen Nationalisten wollten sich selbst als Opfer darstellen. Der Premierminister der serbischen Teilrepublik Milorad Dodik wiederholte kürzlich Propagandalügen des Krieges, etwa über die Granate auf den Marktplatz in Sarajevo. Er erklärte, sie sei von den Verteidigern der Stadt selbst abgefeuert worden. Und als ihm Valentin Inzko, der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft widersprach, wurde dieser sogar von Karadzic aus dem Gefängnis heraus angegriffen.
Nach den Gedenkfeiern am 11. Juli für die 8.300 Ermordeten von Srebrenica auf dem Gelände des großen Friedhofes in Potocari seien am nächsten Tag radikale Serben durch Srebrenica gezogen, mit Karadzic- und Mladic-Bildern auf den T-Shirts. "Sie bedauern nichts."
Selbst die Buslinien spiegelten die Verhältnisse wider. Sie müsse, um von der serbischen Teilrepublik nach Sarajevo zu kommen, umsteigen und lange Wartezeiten in Kauf nehmen. So nehme eine Fahrt den ganzen Tag in Anspruch. Und die Bosniaken aus Srebrenica müssten oftmals nach Sarajevo fahren.
Zum Beispiel, wenn sie ein Visum beantragen wollen. Insgesamt sechs Monate habe die Prozedur gedauert, um zum Prozessbeginn gegen Radovan Karadzic nach Den Haag reisen zu können, sagt Mehmedovic. "Aber wir werden fahren." Sie haben protestiert vor dem Gerichtshof in Den Haag, auch dagegen, dass Karadzic gar nicht erst erschienen ist an den ersten beiden Verhandlungstagen. "Wir sind da, wir haben überlebt, wir erheben unsere Stimme", sagt Mehmedovic. Die Vergangenheit könne man nicht ungeschehen machen. "Aber unser Leben bleibt für immer mit ihr verbunden."
Der Autor ist freier Journalist
und lebt in Sarajevo.