KAMBODSCHA
Vann Nath kann Tuol Sleng nicht vergessen
Wenn die Sonne hinter den Dächern von Phnom Penh versinkt, kommt leichter Wind auf. Das ist die Zeit für Vann Nath, die steilen Außentreppen seines Hauses emporzusteigen, um auf der Dachterrasse die kühleren Abendstunden zu verbringen. Der 65-Jährige macht es sich in einer zerschlissenen Hängematte bequem. Seine Wunden plagen ihn, die, die ihm die Roten Khmer vor mehr als dreißig Jahren zufügten. Noch viel mehr quält ihn die schmerzliche Erinnerung an die Zeit des zügellosen Terrors von 1975 bis 1979, als Kambodscha von den Rebellen in ein einziges Zwangsarbeitslager umgewandelt wurde.
Fast zwei Millionen Menschen kamen ums Leben - wer nicht bestialisch umgebracht wurde, starb an Hunger, Krankheiten oder Überarbeitung. In der Schule Tuol Sleng in Phnom Penh richteten die barbarischen Roten Khmer, die aus dem südostasiatischen Land einen reinen Agrarstaat machen wollten, ein Folterzentrum ein.
Fast 15.000 Menschen erduldeten unvorstellbare Grausamkeiten, bevor sie auf den "Killing Fields" vor den Toren der Hauptstadt erschlagen wurden. Als die Roten Khmer Anfang 1979 von den Vietnamesen vertrieben wurden, hatten nur sieben Gefangene die Folter in Tuol Sleng überlebt. Heute leben noch drei - Vann Nath ist einer von ihnen. Der Weißhaarige, der mit seinen Verwandten das kleine Restaurant "Kith Eng" in Phnom Penh betreibt, leidet immer noch unter den Folgen der Folter: Seine Peiniger quälten ihn mit Elektroschocks. Unaufgefordert krempelt Nath die Hemdsärmel hoch und zeigt lange Narben auf den Unterarmen. "Nach tagelanger Folter fühlten wir uns wie Tiere, nicht mehr wie menschliche Wesen", sagt er. Ein bis zwei Löffel Reis täglich führten dazu, dass der beißende Hunger die Gedärme zerriss, und das Denken ausschließlich auf Essen fixiert war - auch auf Insekten, die von der Decke der Zelle fielen. Seine Stimme wird noch leiser und klingt verschämt, als er davon berichtet.
Die Folter war schrecklich, mehr noch die Erniedrigung. Dass die Peiniger ihn seiner Würde berauben wollten, das kann er ihnen bis heute am wenigsten verzeichen. Das verzweifelte Wimmern der gequälten Mitgefangenen hört Vann Nath immer nachts, wenn ihn die Gespenster der Vergangenheit heimsuchen. Er zeigt Fotos aus der Zeit seiner Gefangenschaft in Tuol Sleng, heute ein Genozid-Museum. Als Nummer 719-55 wurde er dort geführt, wie alle anderen sofort nach der Ankunft abgelichtet und in Ketten gelegt.
Dass Vann Nath in Tuol Sleng überlebte, verdankt er seinem Talent als Maler. Nach Wochen der Folter steht er eines Tages, völlig geschwächt, dem Leiter des Gefängnisses gegenüber, Kaing Guek Eav, genannt Duch. Zitternd vor Angst sieht Nath sein Ende gekommen. Doch Duch will, dass der Gefan-gene ein überlebensgroßes Portrait von Pol Pot malt, dem Führer der Roten Khmer, genannt Brother Nr. 1.
Es bleibt nicht bei einem Bild, das der nun mit großen Portionen Reis aufgepäppelte Vann Nath anhand von Fotos malt. Es rettet ihm das Leben, dass die Bilder nicht nur dem heute vor dem internationalen Völkermord-Tribunal in Phnom Penh stehenden Duch gefallen, sondern vor allem dem mächtigen Diktator Pol Pot, der einen Personenkult nach dem Vorbild Maos vorbereitet. In einem separaten Raum bleibt Vann Nath zwar von nun an die Folter erspart, aber nicht die entsetzlichen Schmerzensschreie seiner Leidensgenossen, die regelmäßig nachts abtransportiert wurden und nicht mehr zurückkamen.
Warum ist Vann Nath im Dezember 1977 abgeholt und von seiner Frau und seinen beiden Kindern getrennt worden? "Ich kann es Ihnen auch heute noch nicht sagen", der Maler spricht leise, mit sanfter Stimme. "Ich habe in einer Dorfgemeinschaft in der Nähe der Provinzhauptstadt Battambang gelebt, in der jeden Tag Menschen festgenommen worden sind. Tag und Nacht wurden sie verhaftet und zu schwerster Arbeit gezwungen."
Vann Nath stockt für einen Moment und muss sich sammeln. Er lauscht dem starken Tropenregen, der auf das Blechdach prasselt. Dann fährt er fort: "Als ich in das Tuol-Sleng-Gefängnis eingeliefert wurde, beschuldigten mich die Roten Khmer, den revolutionären Kurs nicht mitzutragen und die Partei Angkar nicht zu unterstützen." Angkar war die alles beherrschende Partei der Roten Khmer, die, wie es hieß, "tausend Augen hat und alles sieht". Tausende verschwanden zu dieser Zeit in Kambodscha, weil sie sich nicht gegen falsche Beschuldigungen wehren konnten.
Die gegen Vann Nath erhobenen Vorwürfe wurden von keiner Stelle untersucht, ihr Wahrheitsgehalt nicht überprüft. Diese Ungewissheit verfolgt ihn bis heute, hatte er doch ein rechtschaffenes Leben geführt und sich nie etwas zuschulden kommen lassen.
Er vertraut seiner buddhistischen Religion, die besagt: Wer im Leben etwas Schlimmes tut, der wird in seinem späteren Leben auch Schlimmes ernten.
So soll es auch den Angeklagten aus der Führungsriege der Roten Khmer ergehen, die vor dem 2004 eingesetzten Khmer Rouge Tibunal stehen. Vann Naths Stimme wird zum ersten Mal lauter, als er deren strenge Bestrafung fordert. Rache sei ihm fremd, sagt der Maler, aber er will Gerechtigkeit, vor allem für die vielen tausend noch lebenden Opfer des Regimes. Diese Gerechtigkeit müsse für jeden Kambodschaner "sichtbar und greifbar" sein.
Allerdings setzt Vann Nath nicht allzu große Hoffnungen in die juristische Aufarbeitung durch das mit nationalen und internationalen Richtern besetzte Völkermord-Tribunal in der kambodianischen Hauptstadt Phnom Penh. Es sei zu spät eingerichtet worden. Viele Schlächter von damals sind wie vom Erdboden verschluckt, seit es seine Ermittlungen aufgenommen hat. Von den ehemaligen Roten Khmer in der amtierenden Regierung von Ministerpräsident Hun Sen spricht Nath nicht. Der Tuol-Sleng-Überlebende ist sich sicher, dass "viele, die gemordet und gefoltert haben, sich nicht vor dem Tribunal werden verantworten müssen". Bislang müssen sich nur fünf Angeklagte vor dem Gericht verantworten. Es dürfe aber nicht sein, dass die Täter davonkommen. "Sie leben noch, und sie können sich im Land frei bewegen. Ich kenne sie, ich habe sie in der Provinz selbst gesehen."
Man müsse den Tätern von einst ihre Schuld klarmachen, fordert Vann Nath. Am 29. Juni hat er seinen Teil dazu beigetragen, als er als Zeuge vor dem Tribunal gehört wurde. Dort schilderte er auch, wie er nach seiner Befreiung im Januar 1979 wie durch ein Wunder seine Frau wiederfand, mit der er noch einmal eine Familie gründete. Drei Kinder hat er heute; zwei Söhne aber haben die Schreckenzeit nicht überlebt.
Vann Nath ist müde, das Gespräch hat ihn erschöpft. Ab und zu greift er noch zum Pinsel, sagt er, doch die Flucht zu anderen Motiven will ihm nicht gelingen. Als wenn eine fremde Macht seine Hand führt, kann Vann Nath nur wie früher Verhör- und Folterszenen malen. Sie haben sich zu tief in seine Seele eingegraben.
Der Autor ist freier Journalist
und lebt in Mainz.