INTERVIEW
Der Regisseur Hans-Christian Schmid (»Der Sturm«) über die schwierige juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien durch das Den Haager Tribunal
Herr Schmid, Ihr Film "Der Sturm" läuft seit 10. September in den deutschen Kinos. Darin geht es um einen fiktiven Prozess vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Wie haben Sie sich auf diesen Film vorbereitet?
Mein Drehbuchautor Bernd Lange und ich wussten vorher nur wenig über das, was am Gericht passiert und wie die Prozesse dort ablaufen. Aber uns hat das Thema sehr interessiert, schließlich wird in Den Haag das erste Mal seit den Nürnberger Prozessen internationales Strafrecht angewendet. 2006 haben wir begonnen, intensive Gespräche zu führen, zum Beispiel mit der deutschen Anklägerin Hildegard Uertz-Retzlaff, dem ehemaligen Präsidenten des Tribunals, Fausto Pocar, aber auch mit Verteidigern und Mitarbeitern der Zeugenschutzabteilung. Wir sind auch nach Sarajewo geflogen und haben mit Opferverbänden und Journalistinnen gesprochen, die sich mit der Problematik des Krieges beschäftigt haben.
Welches Bild hatten Sie zuvor vom Den Haager Tribunal?
Ich hatte ungefähr die Vorstellung, die jemand hat, der die Zeitung liest: dass die Arbeit dort kompliziert und langwierig ist. Ich hatte auch Carla del Ponte im Kopf, die lange als einzige Vertreterin des Tribunals in der Öffentlichkeit stand und in Pressekonferenzen oft sagte: Solange Serbien, Montenegro und andere uns nicht ihre Kriegsverbrecher ausliefern, sollten sie auch nicht in die EU kommen. Ich ahnte daher, dass die Arbeit des Tribunals auch mit Politik zu tun hat. Allerdings war mir im Vorfeld nicht ganz klar, wie sehr.
Wenn man Ihren Film sieht, könnte man den Glauben an die Gerechtigkeit verlieren. Da werden faule Kompromisse geschlossen, der Prozess wird von politischen Interessen wie den Verhandlungen über einen EU-Beitritt Bosniens geleitet. Die Bestrafung der Kriegsverbrecher rückt in den Hintergrund. Sitzen die Gegner des Tribunals nicht nur auf der Anklagebank, sondern auch in den eigenen Reihen?
Das kann man schon so sagen, ja. Das haben wir uns beim Drehbuch schreiben nicht ausgedacht, sondern durch Gespräche mit den Mitarbeitern vor Ort so recherchiert. Der EU-Politik steht das Tribunal mit seinen Forderungen offenbar tatsächlich manchmal im Weg, wenn es darum geht, Länder möglichst schnell an die EU heranzuführen. Die Ankläger haben zudem große Probleme mit dem herrschenden Zeitdruck und dem Weglassen von Anklagepunkten. Gemäß der "completion strategy" der Vereinten Nationen soll das Tribunal bis Ende 2010 bekanntlich die Verfahren beenden. Dabei ist seit Jahren bekannt, dass das nicht zu schaffen ist.
Noch sind nicht alle gesuchten Kriegsverbrecher gefasst. Einer der Führer der bosnischen Serben, Ratko Mladic, ist noch auf der Flucht, der Prozess gegen Radovan Karadzic hat gerade erst im Oktober begonnen. Was bedeutet der Zeitdruck für die Prozesse?
Es spricht ja viel dafür, die Prozesse nicht extrem ausufern zu lassen. Gerade bei Leuten wie Radovan Karadzic sind die Vorwürfe und Anklagepunkte so umfangreich, da könnte man ein Jahrzehnt an der Aufarbeitung sitzen. Trotzdem ist es schwierig, so "pragmatisch" zu arbeiten. Die Richter im Tribunal sind Herren über die Zeit, wie auch unsere Anklägerin im Film schmerzlich erfährt. Sie teilen Zeitkontingente zu, legen genau fest, wann der Prozess abgeschlossen sein muss, verkürzen das Verfahren mitten im Prozess. Wenn sie Anklagepunkte limitieren oder beschränken, bedeutet das, dass sie bestimmte Taten aus dem Verfahren ausschließen. Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit bleibt dabei auf der Strecke.
Kann das Tribunal seinen Anspruch, Gerechtigkeit zu schaffen und die Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien aufzuklären, nicht erfüllen?
Gerechtigkeit ist ein sehr hohes Gut und die Basis für die künftige Verständigung in Nachkriegsgesellschaften. Aber man muss auch realistisch sein: Das Den Haager Tribunal hat seit 1993 insgesamt 160 Kriegsverbrecher angeklagt, aber es gibt wahrscheinlich tausende. Das Tribunal kann also nur ein Anfang sein, ein Impuls für die Gerichte in den jeweiligen Ländern, die Aufarbeitung weiterzuführen. Und bei aller Kritik finde ich es immer noch besser, wenn das Gericht unter diesen Bedingungen arbeitet, als wenn es gar nichts tun würde. Es zeigt den Diktatoren und Kriegsverbrechern dieser Welt, dass sie in Zukunft damit rechnen müssen, für ihre Taten verurteilt zu werden. Diese Signalwirkung ist für mich eine der wichtigsten Funktionen des Gerichts.
Die strengen Prozessregeln und der hohe Druck sind vor allem eine Belastung für die Zeugen, wie Sie im Film sehr eindringlich zeigen. Was bedeutet es für sie, vor dem Tribunal auszusagen?
Zeugen, die Opfer geworden sind, sind oft schwer traumatisiert. Sie entscheiden sich, wie unsere Hauptfigur Mira, oft erst nach langer Zeit über ihre Erlebnisse zu sprechen. Dabei haben sie andere Bedürfnisse als die Richter und Ankläger. Die wollen, dass die Zeugin in 20 Minuten zum Punkt kommt und erzählt, was zu erzählen ist. Für die Zeuginnen ist das erneut traumatisierend. Im Film zeigen wir außerdem, wie die Aussage einer Zeugin dem Wunsch, das Verfahren abzukürzen, im Weg steht.
Eine realistische Szene?
Ja, das ist in Wirklichkeit schon so passiert: Eine Zeugin sitzt im Wartesaal des Gerichts, soll aussagen - dann wird beschlossen, dass man abkürzt und sie nicht mehr braucht. Sie wird wieder nach Hause geschickt, obwohl sie sich zu einer Aussage überwunden und lange auf diesen Tag vorbereitet hatte.
Es scheint, als habe sich Ihr Bild von der Tätigkeit des Tribunals durch Ihre Recherchen weitgehend bestätigt. Hat Sie auch etwas überrascht?
Die größte Überraschung - und der nach meinem Gefühl auch größte Skandal - ist, dass sich die Weltgemeinschaft nicht dazu durchringen kann, das Tribunal seine Arbeit zu Ende machen zu lassen. Es ist ungeheuerlich, dass es nicht möglich sein soll, ein Budget von heute rund 200 Millionen Euro im Jahr weiterhin zur Verfügung zu stellen - das ist ein lächerlich geringer Betrag. Ein deutscher Richter meinte einmal, das Zehn-Jahres-Budget des Tribunals entspreche den Kosten eines halben Tarnkappenbombers. Das zeigt, wie wenig internationales Recht eigentlich gewünscht wird, vor allem von den Vetomächten in den Vereinten Nationen, von China, Russland, den USA, aber auch von Israel.
Woran liegt das? Ist das Ignoranz?
Ich denke, die Staaten wollen nicht das Risiko eingehen, dass sich bald die eigenen Soldaten vor einem internationalen Gericht verantworten müssen. Daher rührt natürlich ein Großteil der Kritik, der das Tribunal ausgesetzt ist. In Serbien sagt man beispielsweise: "Ihr urteilt in Den Haag unsere Soldaten ab, aber Ihr seid nicht bereit dazu, dass dies auch irgendwann einmal mit Euren Soldaten passiert." Die Haltung der Weltgemeinschaft halte ich in dieser Frage für opportunistisch und halbherzig.
Das Interview führte Johanna Metz