GAZA-KRIEG
Die israelische Nichtregierungsorganisation Showrim Shtika veröffentlicht Aussagen von israelischen Soldaten über ihren Einsatz in den Palästinensergebieten
Yehuda Shaul wirkt älter als er ist. Das mag an seinem Vollbart liegen, dem massiven Körperbau und dem eher beschwertem Gang. Es ist drückend schwül an diesem Tag Anfang Juli 2009, als er sich von Jerusalem mit dem Bus nach Tel Aviv aufmacht, um auf den jüngsten Bericht seiner Organisation "Showrim Shtika" (Das Schweigen brechen) zum Gaza-Krieg aufmerksam zu machen. Die Nichtregierungsorganisation bietet ehemaligen und dienenden Soldaten eine Plattform, um sich anonym über ihre Erlebnisse in der Armee zu äußern.
Vor neun Jahren wurde Shaul selbst in die Armee eingezogen, für ihn wie für die meisten jüdischen Israelis eine Selbstverständlichkeit. Die Zweite Intifada hatte gerade begonnen und sollte das Land bald mit einer Welle von Selbstmordanschlägen überziehen. Shaul diente viele Monate in Hebron, der zweitgrößten palästinensischen Stadt im Westjordanland, wo in unmittelbarer Nähe zur Grabesstätte der jüdischen Urväter mehrere hundert Siedler leben. Deren Verhalten gegenüber der einheimischen Bevölkerung und die Übergriffe der Soldaten, die die Siedler schützen sollen, waren das Thema einer Fotoausstellung, die Yehuda Shaul nach seiner Entlassung aus der Armee mit Anderen in Tel Aviv organisierte. Tausende strömten in die Ausstellung, die ihnen auch in schriftlicher Form persönliche Erlebnisse von Soldaten, die alle in Hebron gedient hatten, nahebrachten. So entstand 2004 Schowrim Schticka. Shaul wollte damit "in die israelischen Wohnzimmer hineinreichen, also die breite Gesellschaft über die Realität der Besatzung aufklären. Ziel seiner Organisation sei es, "das Schweigen und Tabu zu brechen, die das Verhalten israelischer Soldaten in den palästinensischen Gebieten umgeben". Nach dem Gazakrieg zur Jahreswende 2008/2009 ging Showrim Shtika genauso vor. Zuvor hatte ein Bericht in der israelischen Zeitung Haaretz einen internationalen Aufschrei ausgelöst, in dem über eine Diskussion an der Militärakademie Oranim berichtet wurde. Der Direktor der Akademie wollte hören, was ehemalige Absolventen über ihren jüngsten Einsatz im Gazastreifen zu erzählen hatten. Dabei kam Schockierendes ans Tageslicht. Die Zeugenaussagen der Israelis deckten sich mit erschütternden Berichten von Palästinensern: Soldaten hätten nur allzu leichtfertig das Feuer auf Zivilisten eröffnet. Den Truppen sei vermittelt worden, dass "in Gaza alles erlaubt sei", um sich selber zu schützen, beschrieb einer der Soldaten die permissive Atmosphäre. Andere erzählten, wie Armeeangehörige Häuser von Palästinensern, in denen sie tagelang Stellung bezogen, verwüstet hätten.
Von diesen und anderen Soldaten sammelte Showrim Shtika insgesamt 26 Zeugenaussagen. Der hundertseitige Bericht, der auch durch einige gefilmte Interviews gestützt wird, wurde im Juli in den in- und ausländischen Medien veröffentlicht. Es geht darin nicht um klassische Kriegsverbrechen, also nicht um vorsätzliche Massaker an hilflosen Zivilisten, sondern um ein immenses Ausmaß an Zerstörung und eine sehr dehnbare Definition von einem "legitimen Angriffziel". Um die Zahl der israelischen Opfer so klein wie möglich zu halten, hätten israelische Soldaten den Befehl bekommen, ohne Rücksicht auf Verluste auf palästinensischer Seite zu handeln, sagt Yehuda Shaul.
In der Vergangenheit hat das israelische Militär nicht selten auf Zeugenaussagen von Soldaten reagiert. "Wir beschäftigen uns mit vielen Anfragen von Nichtregierungsorganisationen und anderen Gruppen", sagt die Armeesprecherin Avital Leibovich. Auch nach der öffentlich gewordenen Diskussion an der Militärakademie Oranim kam es zu einer offiziellen Untersuchung; allerdings wurden die Vorwürfe von Soldaten, die von leichtfertig erschossenen palästinensischen Zivilisten berichteten, mit dem Argument abgetan, dass sie nicht bewiesen werden konnten. "Wenn sich ein Bericht auf Hörensagen gründet, ohne irgendwelche konkrete Fakten, dann können wir damit nichts anfangen." Avital Leibovich wundert sich, warum Showrim Shtika sich mit den Vorwürfen nicht schon früher an das Militär wandte. Sie unterstellt der Organisation, dass es ihr mit den Zeugenaussagen letztlich mehr darum ginge die Armee in Zweifel zu ziehen als eine ernsthafte Untersuchung zu garantieren.
Umstritten ist auch die Methode. Während Showrim Shtika darauf besteht, den Zeugen Anonymität zu garantieren, weil es Soldaten untersagt ist, sich öffentlich zu äußern, hält der militärische Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblatt dies für "höchst problematisch", weil sich solche Aussagen bei Untersuchungen als kontraproduktiv herausstellen könnten. "Es ist klar für mich, dass jemand, der aussagt, einen Preis bezahlt. Aber wenn das Verhalten (von Soldaten) so erschreckend ist, und sie beschreiben schreckliche Dinge, sollten sie mit uns reden. Wie sollen wir das sonst verifizieren? Immerhin sprechen manche von offensichtlichen Mordfällen."
Mittlerweise wird Showrim Shtika von ausländischen Regierungsgeldern mitfinanziert, was zu Protesten aus dem Jerusalemer Außenministerium geführt hat. Zu den Unterstützern zählten 2008 die Botschaften Großbritanniens und der Niederlande sowie der EU in Israel. Israel gefällt das nicht. Showrim Shtika sei eine "legale und legitime Organisation" sagt der Botschafter in den Niederlanden, aber Israel sei eine Demokratie. Er sagt, Gelder zur Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen sollten besser in Länder fließen, die das nicht seien.
Dass bei Showrim Shtika die Soldaten selber reden, hat in jedem Fall eine große Wirkung auf die israelische Gesellschaft. Schließlich geht es hier um die eigenen Kinder, auf deren Mitwirkung man auch bei künftigen militärischen Auseinandersetzungen angewiesen sein wird. Und dass solche Auseinandersetzungen auch in Zukunft von feindlichen Milizen im arabischen Umland gesucht würden, daran zweifelt in Israel kaum einer.
Die interne Debatte um künftige Normen, die Showrim Shtika angestoßen hat, erscheint dem israelischen Philosophen Moshe Halberthal deshalb besonders wichtig. Er gehört jener Gruppe an, die 2001 einen neuen Militärcode erarbeitet hat, der sich mit internen Ethik-Standards der israelischen Armee befasst. Halberthal hält es für einen gesunden Prozess, über alles offen zu reden. Ein Ziel des Terrors sei es ja gerade, den "Gegner derart überreagieren zu lassen, dass er in den eigenen Augen die Legitimität verliert".
Dass Israel seit dem Gazakrieg verstärkt ins internationale Blickfeld geraten ist, macht die Arbeit für Showrim Shtika nicht unbedingt leichter. Denn sie bedient mit ihrem Material nolens volens jene Kräfte im Ausland, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Staat Israel an sich zu delegitimieren. Aber in dieser komplexen Rolle befinden sich heute fast alle israelischen Menschenrechtsorganisationen. Yehuda Shaul ist dennoch alles andere als ein Pessimist. Im Gegenteil. Er glaube an die Selbstreinigungskraft der israelischen Gesellschaft, sagt er. Nur müssten dazu eben genügend Informationen verbreitet werden.
Die Autorin ist
Israel-Korrespondentin der "Zeit"