SCHULBUCH
Israelis und Palästinenser haben an einem gemeinsamen Lehrbuch gearbeitet. Die unterschiedlichen Sichtweisen historischer Ereignisse stehen darin nebeneinander
Dass die Wende in seinem Leben ausgerechnet in einem israelischen Gefängnis beginnt, ist eine ganz besondere Pointe an dieser Geschichte. Sami Adwan, Professor für Erziehungswissenschaften der Universität Bethlehem, erzählt oft davon. Geboren 1954 in einem Dorf nahe Hebron im Westjordanland, aufgewachsen unter israelischer Besatzung, sieht Adwan die Israelis lange als den Grund für die ganze Misere, für all das Leiden der Palästinenser. Er denkt noch so, als er schon Erziehungswissenschaften in den USA studiert und meidet Seminare, wenn er weiß, dass jüdische Studenten daran teilnehmen. Gesprochen hat er bis dahin mit keinem Israeli, er kennt sie nur als Soldaten von den Checkpoints.
Einige Jahre später ist Adwan Kodirektor eines israelisch-palästinensischen Friedensforschungsinstituts und erarbeitet zusammen mit jüdischen Lehrern und Historikern ein israelisch-palästinensisches Geschichtsbuch über den Nahostkonflikt. Was wie ein Widerspruch klingt, hat eine Vorgeschichte.
Aus den USA zurückgekehrt, wird Adwan Mitglied der Palästinenserorganisation Fatah, wenig später landet er in einem israelischen Gefängnis. Hier geschieht etwas was, was nicht in sein Weltbild passt. Er bekommt mit, wie sich ein israelischer Soldat für seine Rechte einsetzt, sich ein Jude für einen Palästinenser stark macht. "Diese Erfahrung veränderte mein Leben." Ihm sei klar geworden, dass nicht alle gleich waren. Er wollte mehr über die Israelis erfahren. Er wollte mit ihnen reden. Als Sami Adwan 1993 nach einem halben Jahr aus dem Gefängnis kam, setzte er alles auf Dialog. Die Oslo-Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern hatten begonnen, es war die Zeit, in der ein Frieden nicht mehr unmöglich schien.
Adwan lernte den Psychologen Dan Bar-On von der Ben-Gurion-Universität kennen. Bar-On hatte weltweit Aufsehen erregt, als er Nachkommen von Holocaust-Opfern mit Kindern von Nazitätern in Gesprächen zusammenbrachte.
Gemeinsam gründeten Bar-On und Adwan 1998 das Peace Research Institute in the Middle East (Prime) und setzten ihre Vorstellung von einem israelisch-palästinensischen Geschichtsbuch um. "Was in der Schule unterrichtet wird, kann einen Konflikt befeuern oder etwas zu seiner Lösung beitragen", sagt Adwan. Sie versuchten erst gar nicht, eine gemeinsame Lesart des Nahostkonflikts zu schreiben. Sie wollten nur die palästinensische Sicht neben die israelische stellen. Und so die anderen zum Nachdenken bringen. Nicht nur Wissenschaftler sollten die Texte verfassen, sondern auch Lehrer, denn schließlich seien sie es, die sie vor den Schülern vertreten müssten.
So wie Yiftach Ron. Er unterrichtet an einer israelischen Schule und sagt, er habe ein Problem damit, wie die israelische Gesellschaft mit Palästinensern umgehe. Die Mitarbeit an dem Projekt sei für ihn der beste Weg, dieses Problem zu lösen.
Die Palästinenserin Maysoon Husseini al Tal ist Lehrerin an einer Mädchenschule in Ostjerusalem. Sie habe lange gezögert, erzählt sie, aber dann dachte sie, es sei eine Möglichkeit, etwas zu bewegen, etwas zu ändern. Sie machte mit, "obwohl mein Mann es nur schwer akzeptieren kann".
So sieht das Werk mit dem Titel "Learning each other's historical narrative" nun aus: Auf der linken Seite steht die israelische Sicht der Dinge, auf der rechten Seite die palästinensische. In der Mitte ist Raum für Notizen der Schüler. Auf diese Weise handelt das Buch die israelisch-palästinensische Geschichte des 20. Jahrhunderts ab. Dazu gehören etwa die Balfour-Deklaration von 1917, die den Juden einen eigenen Staat versprach, die Intifada, die Kriege von 1948 und 1967.
Die Fakten sind dieselben, nur gibt es zwei Sichtweisen dazu. Das Jahr 1948 etwa bedeutet für die Israelis Unabhängigkeitskrieg und Staatsgründung, für die Palästinenser ist es das Jahr der Katastrophe, der nakba, der Vertreibung aus ihrer Heimat.
Drei Bände sind von 2002 bis 2008 entstanden. Es sei nicht schwierig gewesen, sich auf die Daten zu einigen, sondern die Interpretation der anderen zu akzeptieren. "Was für die einen Terroristen waren, waren für die anderen Helden", sagt Adwan. Dem im Herbst 2008 gestorbenen Dan Bar-On ging es um die "Entwaffnung der Geschichte". Die müsse in der Schule beginnen, denn bisher sei die Schulbildung Teil des Problems, sagt Adwan, "und nicht Teil der Lösung". Keiner wisse etwas über den anderen. In den Schulbüchern der einen wird der Holocaust ignoriert, in denen der anderen die nakba.
Maysoon Husseini und Yiftach Ron haben in ihren Klassen gute Erfahrungen gemacht. Andere erzählen, dass den Schülern in Israel die palästinensische Lesart oft zu emotional sei, nahe an der Propaganda. Viele palästinensische Schüler sagen, es werde sich kaum etwas an ihrer Lage ändern, wenn sie mehr Verständnis für die israelische Lesart der Geschichte entwickelten. Adwan sagt dennoch, dass die meisten Schüler weniger pauschal urteilten und vorsichtiger in ihren Einschätzungen der "Anderen" seien. "Es ist ein Anfang. Man kann nur hoffen."
Fragt man Eyal Naveh, Professor für Geschichte an der Universität von Tel Aviv, der von Anfang an an der Entwicklung des Geschichtsbuch beteiligt war, ob er denn daran glaube, dass es einmal im regulären Unterricht eingesetzt werde, sagt er: "Nicht zu meinen Lebzeiten." Aber das hindert ihn nicht daran, sich gerade dafür weiter stark zu machen.
Der Autor ist Redakteur
der Wochenzeitung "Die Zeit".