UGANDA
Der Internationale Strafgerichtshof fahndet nach Joseph Kony. Währenddessen kämpfen seine Opfer für ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft
Okumu Francis war neun, als er zum ersten Mal tötete. Barfuss, rosa Hemd, dunkle, kurze Hose sitzt er in einer verlassenen Lehmhütte in der kleinen Ortschaft Kitgum, im Norden Ugandas. Es riecht nach Exkrementen und verfaulendem Müll. Die Mittagshitze lässt die Luft flirren. Halbnackte Kinder spielen auf einem Grab. Okumu fährt sich mit der Hand über das Gesicht, schüttelt den Kopf, als wollte er die bösen Geister der Vergangenheit wie eine lästige Fliege vertreiben. Okumu wurde von der Lords Resistance Army (LRA) entführt und als Kindersoldat missbraucht. Jetzt steht er ratlos in den Trümmern seines jungen Lebens und das einzige, was er gelernt hat, ist zu töten.
Wie viele Menschen Okumu umgebracht hat, weiß er nicht mehr. "Ich war in so vielen Schlachten. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen." Immer wieder lieferten sich die Rebellen Scharmützel mit der ugandischen Armee. Oft entgeht Okumu nur knapp dem Tod, wird unzählige Male verwundet. Mal versteckt sich seine Einheit im Sudan, mal in Kenia - die ugandische Armee dicht auf den Fersen. Erst sieben Jahre später kann Okumu während eines Feuergefechts fliehen. Tagelang irrt er hungrig durch den Busch, wird von der ugandischen Armee festgenommen und landet schließlich in einem Auffanglager für ehemalige Kindersoldaten.
Mindestens 20.000 Kinder sollen die Rebellen auf Befehl des Sektenführers Joseph Kony entführt haben, um sie als Kindersoldaten und Sexsklaven zu missbrauchen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag erließ im Juni 2005 Haftbefehle gegen Kony und weitere Anführer der LRA; sie sollen sich vor dem internationalen Kriegsverbrechertribunal für ihre Taten verantworten. Konys Opfer halten davon nicht viel. Sie wollen seine Kämpfer auf ihre Weise wieder in die Gesellschaft integrieren: Durch Versöhnungsrituale, wie es im Norden Ugandas Tradition ist. Es ist eine Entscheidung zwischen Frieden oder Gerechtigkeit - im Norden Ugandas haben sich die Menschen für den Frieden entschieden.
Mehrere Monate verbringt Okumu nach seiner Flucht in einem der unzähligen Auffanglager für Konys ehemalige Kämpfer. Dann finden Sozialarbeiter der Caritas Familienangehörige in seinem Heimatdorf Kitgum. Doch bevor er heimkehren darf, muss er seine Seele reinigen lassen; nur so kann er wieder in die Dorfgemeinschaft aufgenommen werden. Mit einem "bitteren Herz" kehren die Rebellen aus dem Busch zurück, sagen die Menschen in Nord Uganda. Viele bedrücken Alpträume und Schuldgefühle. Mit den Reinigungsritualen soll die Seele von ihren Lasten befreit und so die Rückkehr in die Gemeinschaft ermöglicht werden.
Okumu sitzt auf einem Stein, umringt von hunderten Dorfbewohnern. Vor ihm steht der Dorfälteste, in der einen Hand hält er eine Ziege an einem Strick, in der anderen ein Messer. Der Mann murmelt und singt uralte Riten vor sich hin, dann ersticht er das Tier, nimmt es aus und verteilt die Eingeweide im Staub. Er liest in Darm, Blase oder Herz wie in einem Buch. Ist der Junge von seinen Taten erlöst oder nicht? Bevor das geschieht, muss das "cen", der Geist der Ermordeten, den Körper des Täters verlassen. Der Dorfälteste runzelt die Stirn, dieser schwarze Fleck auf der Milz der Ziege bereitet ihm Sorgen, vielleicht sind nicht alle Geister vertrieben. Die Menge schweigt, wartet auf das Urteil. Die Minuten vergehen, dann steht der Alte auf, tätschelt Okumus Kopf und ruft in die Menge: "Die Seele ist frei!" Die Menschen jubeln, beginnen zu singen, zu tanzen und umarmen den Jungen, in dem sie eben noch einen Mörder sahen. Jemand beginnt den Kadaver der Ziege zu zerlegen, um ihn anschließend zu verspeisen. Zeit zu feiern. Okumu lächelt schüchtern. Ohne solche Reinigungszeremonien kann kein ehemaliger Kämpfer in seine Dorfgemeinschaft zurückkehren. Ob er gezwungen wurde oder sich freiwillig der LRA anschloss, spielt keine Rolle. In den meisten Fällen helfen diese Rituale - weil die Menschen daran glauben: Der Täter verliert sein Stigma, die Opfer ihre Angst. Ein Happy End bedeutet die Heimkehr in ihre Dörfer trotzdem nicht. Vielmehr ist es oft der Beginn eines mühseligen Prozesses. Alle Rückkehrer erwartet in ihren Dörfern erstmal Misstrauen und Ablehnung.
Joseph Kony versteckt sich derweil im Kongo oder im Südsudan. Im August dieses Jahres überfielen seine Kämpfer Dörfer im Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik und töteten die Bewohner. Frieden oder Gerechtigkeit? Diese Frage stellt sich Joseph Kony nicht. Okumu aber kann endlich wieder zur Schule gehen. Er ist 16 Jahre alt und geht in die vierte Klasse.
Der Autor ist freier Journalist
und Mitglied der Agentur Zeitenspiegel.