tRANSITIONAL JUSTICE
Plädoyer für ein umfassendes Verständnis von Gerechtigkeit
Im Frühjahr 1992 entstand bei den Vorbereitungen einer Konferenz zum Thema "Gerechtigkeit in Zeiten des Umbruchs" ein Begriff, der wenige Jahre später seinen Siegeszug um die Welt antreten sollte - "Transitional Justice". Hinter diesem Begriff verbarg sich eigentlich nichts Neues: Die kleine Gruppe von Rechtswissenschaftlern, Menschenrechtsaktivisten und Parlamentariern aus Deutschland, Uruguay, Spanien und osteuropäischen Ländern, die sich damals in Salzburg traf, sprach über die Strafverfolgung von schweren Menschenrechtsverletzungen, Amtsenthebungsprozesse, Reformen von Polizei und Armee, Wahrheitsfindung und Entschädigungsprogramme für Opfer. Maßnahmen also, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges von jungen Demokratien ergriffen worden waren, um in der Phase des Übergangs Verbrechen repressiver Vorgängerregime aufzuarbeiten und zu ahnden.
Neu war hingegen die Idee, diese Maßnahmen nicht einzeln zu betrachten, sondern im Bewusstsein ihrer wechselseitigen Wirkung auf und ihre Bedeutung für politische Reformprozesse zu einem Paket zusammenzuschnüren. In einer zeitlich begrenzten Übergangsphase sollte die Umsetzung dieses Maßnahmenpakets den faktischen wie symbolischen Bruch mit dem früheren System manifestieren und dazu beitragen, im Entstehen begriffene demokratische Institutionen zu konsolidieren. Schon für die Vordenker des Transitional Justice-Konzeptes standen dabei die Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Rechts- sicherheit, insbesondere für Opfer von Gewalt, sowie die Aufarbeitung und öffentliche Anerkennung vergangenen Unrechts im Zentrum.
Die Realität sah Anfang der 1990er Jahre anders aus. Statt Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, erließen Länder wie Chile, El Salvador und Guatemala Amnestien. Wahrheitskommissionen, die in diesen Ländern im Rahmen von Demokratisierungs- und Friedensprozessen etabliert wurden, stießen auf starken Widerstand: Ihre Mandate waren deutlich begrenzt - in Chile konnte die Kommission nur Folter mit Todesfolge, das Verschwindenlassen von Personen und politisch motivierte Exekutionen durch den Staat untersuchen -, staatliche Institutionen verweigerten die Zusammenarbeit, öffentliche Entschuldigungen nach der Publikation von Kommissionsberichten blieben aus, und auch die Umsetzung von Empfehlungen erfolgte meist nur sehr zögerlich. Von einem Siegeszug konnte also noch nicht die Rede sein.
Dieser setzte wenig später ein und wurde von zwei Ereignissen ausgelöst: Zum einen nahm 1996 die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission ihre Arbeit auf. Neben der "faktischen Wahrheit", wie der Kommissionspräsident Desmond Tutu sie nannte, sollte auch der "persönlichen, sozialen und heilenden Wahrheit" durch öffentliche Anhörungen von Opfern und Tätern Raum gegeben werden. Nicht zuletzt diese Neuerung erregte große internationale Aufmerksamkeit und ließ Südafrika zum Modell künftiger Wahrheitskommission werden, die Teil des Transitional Justice-Konzept sind.
Zum anderen wurden in Den Haag und Arusha (Tansania) zum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen Kriegsverbrecher vor internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda angeklagt. Im Zuge dessen formierte sich eine internationale Bewegung gegen die Straflosigkeit, die mit der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofes 2002 ihren Höhepunkt fand.
Auch die Rechte der Opfer wurden gestärkt. Als der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan schließlich 2004 dem Sicherheitsrat seinen Bericht zu Transitional Justice vorlegte, waren in Ländern wie Sierra Leone, Ost-Timor, Marokko und Peru bereits Wahrheitskommissionen eingerichtet worden, in seltenen Fällen kombiniert mit Strafgerichten. Dieser Trend setzt sich bis heute fort.
Nichts desto trotz bleiben mit Blick auf Theorie und Praxis des Konzeptes viele Fragen offen und viele Herausforderungen bestehen. So ist es noch in keinem Fall gelungen, die unterschiedlichen Maßnahmen in einem begrenzten Zeitraum umzusetzen. Meist dauert es Jahrzehnte, bis eine Kultur und Politik des Schweigens und der Straflosigkeit durch eine verantwortungsbewusste Erinnerungspolitik, Strafverfolgung und Opferentschädigung abgelöst wird. Deutschland bildet dabei keine Ausnahme. Vor diesem Hintergrund sind die Anforderungen und Erwartungen, die heute von außen an Nachkriegsgesellschaften herangetragen werden, zu hoch. Dies umso mehr, als dass Strafgerichte und Wahrheitskommissionen mittlerweile zu den zentralen Instrumenten der internationalen Gemeinschaft in Friedensprozessen zählen und zunehmend in Ländern umgesetzt werden, die von lang andauernder, umfassender Gewalt, Armut und schwachen staatlichen Institutionen geprägt sind. Hier greift das bisherige Konzept von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu kurz, denn es fokussiert auf den Schutz politischer Menschenrechte und die Ahndung von Kriegsverbrechen, während die tiefer liegenden Gründe für Gewalt weitgehend ausgeklammert bleiben.
Möchte man jedoch mit Transitional Justice nicht nur den Blick zurück auf begangene Gewalttaten werfen, sondern auch einen Grundstein für gerechtere Lebensbedingungen legen, bedarf es in Zukunft eines umfassenden Verständnisses von Gerechtigkeit, das sich an der Unteilbarkeit der Menschenrechte orientiert.
Die Autorin ist Leiterin der Arbeitsgemein-schaft Entwicklungspolitische Friedensarbeit.