MITTELEUROPA
Die Akten der kommunistischen Geheimdienste werden geöffnet - und instrumentalisiert
Im Essay "Der fremde Blick" schildert die Nobelpreisträgerin Herta Müller eine Episode aus ihrer Studentenzeit in der rumänischen Stadt Temeswar. Damals verfolgte sie schon der kommunistische Geheimdienst der Ceausescu-Diktatur als Oppositionelle. Sie schildert: "Nach langem Überlegen kaufte ich mir ein Fahrrad. Es hätte auch schneller gehen können, was mich zögern machte, war ein Satz, den mir bei einem der Verhöre der Geheimdienstler ohne jeden Zusammenhang gesagt hatte: ,Es gibt auch Verkehrsunfälle.' Ich hatte seit vier Tagen ein Fahrrad in der Stadt. Am fünften Tag fuhr mich ein Lastauto an und schleuderte mich durch die Luft. Ich hatte ein paar Schürfwunden an den Rippen, sonst nichts. Zwei Tage später war ich zum Verhör bestellt. Der Geheimdienstler sagte ohne jeden Zusammenhang: ,Ja, ja, es gibt wirklich Verkehrsunfälle.'"
Schon diese Episode verdeutlicht, mit welcher Brutalität das Ceausescu-Regime gegen Andersdenkende und vermeintliche Gegner vorging. Die Securitate war einer der gefürchtetsten Geheimdienste im ehemaligen Ostblock. Als sie 1989 aufgelöst wurde, habe sie 450.000 registrierte Informanten gehabt, von denen 130.000 noch aktiv gewesen seien, schreibt der Historiker Dennis Deletant. Bei der Suche nach Spitzeln machte das Regime nicht einmal vor Kindern Halt: In der rumänischen Stadt Sibui waren 98 Kinder zwischen 9 und 16 Jahren als Agenten registriert.
Nicht nur in Rumänien, auch in allen anderen Ostblock-Staaten spielten die Geheimdienste bis zuletzt eine wichtige Rolle, um die Ein-Parteien-Herrschaften zu verteidigen. Wie der sowjetische Geheimdienst KGB terrorisierten die Dienste auch hier Andersdenkende. Bespitzelung, Zersetzung oppositioneller Gruppen, Verhaftungen und in manchen Ländern auch politische Morde gehörten bis in die 1980er Jahre zu den angewandten Methoden. In der DDR war der Ruf nach Auflösung der Staatssicherheit bei der friedlichen Revolution so laut, dass die Mächtigen ihm noch vor den ersten freien Wahlen nachkamen. Anders in Mitteleuropa: Dort wurden die kommunistischen Geheimdienste in den neugegründeten Verfassungsschutz und die Spionageabwehr überführt. Oft wurden nur einige Abteilungen aufgelöst, die sich explizit mit der Überwachung Oppositioneller beschäftigt hatten. Ein Großteil des Personals und der Akten wanderte vom alten zum neuen Geheimdienst. Wie konnte das passieren?
"Der Charakter des Überganges" von Diktatur zu Demokratie sei daran schuld, findet der ungarische Wissenschaftler János Kenedi. Der heute 62-Jährige protestierte 1968 gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings und durfte daraufhin bis 1989 nur in illegalen Samisdat-Ausgaben publizieren. Heute gehört er zu den profiliertesten Experten für die kommunistische Staatssicherheit in Ungarn. Der "friedliche Übergang", zwischen kommunistischen Kadern und Oppositionsgruppen am Runden Tisch ausgehandelt, hätte einen radikalen Schnitt mit der Vergangenheit verhindert, sagt er. "Bei den Runden-Tisch-Gesprächen in Ungarn wurde nicht einmal die Abteilung III des Innenministeriums erwähnt, die für die Bespitzelung der Opposition verantwortlich war." Dass die neugegründeten Dienste sich dann auf "nationale Interessen" beriefen, um die Herausgabe bestimmter Akten zu verhindern, hält er für einen Vorwand: "Die angeblichen nationalen Interessen bestanden allein darin, den Geheimdienst der Diktatur und ihre Funktionsträger ins demokratische System hinüberzuretten." 65 Prozent der alten Offiziere hätten in Ungarn Unterschlupf bei den neuen Diensten gefunden.
Dass sich Profiteure der alten Systeme in die neuen Demokratien hinüberretten, das sollten eigentlich die Lustrationen verhindern. Das Wort bedeutet im Lateinischen "Durchleuchtung", bezeichnet aber auch ein Sühneopfer. In den mitteleuropäischen Ländern wurde so die Überprüfung bestimmter Amtsträger - Parlamentarier, Regierungsmitglieder, Richter - auf die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Geheimdiensten bezeichnet. Am konsequentesten wurde die Lustration in der Tschechischen Republik durchgezogen. Doch in keinem Land konnte sie verhindern, dass sich alte kommunistische Seilschaften auch in der Demokratie lukrative Posten in Politik, Wirtschaft und Medien sicherten. Péter Medgyessy, der in den 1970er Jahren unter dem Decknamen D-209 hauptamtlicher Mitarbeiter des ungarischen Geheimdienstes war, wurde 2002 sogar ungarischer Ministerpräsident. Andererseits trafen Vorwürfe der Kollaboration auch Oppositionelle, die von den Geheimdiensten unter Druck gesetzt und verhört worden waren: Der Solidarnosc-Gründer und spätere polnische Präsident Lech Walesa kämpfte jahrelang gegen die Anschuldigung, als Informant für den polnischen Geheimdienst SB gearbeitet zu haben. Auch der evangelische Geistliche László Tökés, der 1989 den Sturz des Ceausescu-Regimes angestoßen hatte, wurde der Kontakte zur Securitate bezichtigt. Noch stärker als in Deutschland wurden die Vorwürfe im politischen Kampf zu Waffen , die gegen alte Kader wie gegen neue Eliten mobilisiert wurden. Kaum ein mitteleuropäisches Land, in dem nicht oft dubiose Stasi-Listen in den Medien oder im Internet auftauchten. Der ungarische Forscher Kenedi findet es deshalb wichtig, jemanden nicht allein aufgrund formaler Kriterien, ohne Berücksichtigung der Umstände zu verurteilen: "Manche wurden zur Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten gezwungen, weil sie erwischt wurden, wie sie eine Falsche Wodka klauten. Hohe Funktionäre, die dem Geheimdienst ohne formale Registrierung Informationen weitergaben, tauchen hingegen nicht in den Listen auf."
Im Gegensatz zur Lustration ist die Einsicht in die eigene Akte erst seit einigen Jahren möglich. Inzwischen gibt es in allen mitteleuropäischen Ländern, die heute zur Europäischen Union gehörden, Pendants zur deutschen Birthler-Behörde. Das polnische "Institut für nationales Gedenken" (IPN) als Größte vereint unter ihrem Dach die Staatsanwaltschaft zur Aufklärung kommunistischer Staatsverbrechen und das Lustrationsamt. Seit sie im Jahr 2000 ihre Arbeit aufgenommen hat, hat sie zehntausenden Bürgern die Einsicht in die von der polnischen Staatssicherheit SB über sie geführten Akten ermöglicht. Ähnliche Behörden findet man auch in Tschechien, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Deutschland hatte bei ihrer Gründung eine Vorbildfunktion: Die Gauck-Behörde lieferte nicht nur ein Muster für die rechtliche und organisatorische Gestaltung, sondern auch den Beweis, dass die Aktenöffnung nicht zum Bürgerkrieg führt. Zu Kopien der Gauck-/Birthler-Behörde sind die mitteleuropäischen Institute aber nicht geworden: Das polnische IPN beispielsweise beschäftigt sich nicht nur mit der Aufarbeitung des Kommunismus, sondern auch mit der deutschen Besatzungszeit und dem Holocaust. Um für mehr Transparenz zu sorgen, nutzen die Behörden in Polen, Tschechien und Slowakei neue Online-Wege: Das slowakische Institut für Volksgedenken (UPN) etwa veröffentlicht auf der Seite upn.gov.sk/regpro mehr als 160.000 Namen inoffizieller Mitarbeiter. Die Datenbank verhindere, dass nicht-authorisierte Listen kursierten, erklärt UPN-Mitarbeiter Peter Balun. Ist die Beschäftigung mit dem Erbe der kommunistischen Geheimdienste also auf einem guten Weg im gemeinsamen Europa? Der Schriftsteller Richard Wagner, als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien geboren und unter dem Ceausecu-Regime verfolgt, sieht das anders. Er kritisiert vor allem die "fragwürdige" Übergabe der Securitate-Akten an die im Jahr 2000 gegründete rumänische Behörde für das Studium der Securitate-Akten (CNSAS): Über die Übergabe der Dokumente entscheidet auch der rumänische Geheimdienst SRI mit. Dort sitzen immer noch zahlreiche Mitarbeiter mit Securitate-Vergangenheit. "Die Täter der 80er Jahre entscheiden also, welche Akten ich lesen darf", empört sich Wagner. Währenddessen kritisiert Kenedi vor allem die Situation ungarischer Historiker: Um für eine Studie an Akten der Staatssicherheit aus den 1960er Jahren zu kommen, musste er sich bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchklagen. Die Dokumente waren immer noch als "geheim" klassifiziert.
Trotz der Unterschiede zwischen den Aufarbeitungsbehörden gibt es inzwischen Anläufe zur Zusammenarbeit. Im Juni trafen sich Vertreter von sieben Instituten in Berlin, um die Frage zu diskutieren, was die nächste Generation über die Geheimpolizeien der kommunistischen Diktaturen wissen sollte. Und als die russische Polizei im vergangenen Herbst im Büro der Bürgerrechtler von Memorial Dokumente über die Opfer Stalins beschlagnahmte, protestierten fünf Behörden in einem gemeinsamen Brief an den russischen Präsidenten. Dort gibt es übrigens noch keine Behörde für die Geheimdienstunterlagen. Im berüchtigten ehemaligen KGB-Folterzentrum an der Moskauer Ljublanka wäre dafür auch kein Platz: Dort residiert heute der russische Inlandsgeheimdienst FSB.