AUFARBEITUNG
Gerechtigkeit braucht mehr als die Arbeit von Strafgerichtshöfen: ein Appell
Den Haag, Ende Oktober 2009: Am UN-Jugoslawien-Tribunal (ICTY), in Saal 1, hat der Völkermord-Prozess gegen den ehemaligen Serbenführer Radovan Karadzic begonnen. In Saal 2 sitzt der kroatische General Ante Gotovina wegen Kriegsverbrechen auf der Anklagebank, für den nächsten Morgen ist die Berufungsverhandlung gegen Ramush Haradinaj, Ex-Kommandant der kosovarischen UÇK-Rebellen, angesetzt. Am anderen Ende der Stadt, in den Räumen des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), wird zu gleichen Zeit über die Anklage gegen Bahr Idriss Abu Garda, Rebellenführer der United Resistance Front (URF) im Darfur entschieden. Eine Etage höher muss sich Charles Taylor, ehemals Präsident von Liberia, vor einem Sondergericht (SCSL) wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten.
SCSL, UÇK, IStGH, ICTY, URF .... Schwirrt Ihnen der Kopf? Macht nichts. Auch wenn man in der Haager Buchstabensuppe leicht den Überblick verliert, wird eines sofort klar: Auf dem Feld der internationalen Strafjustiz herrscht so viel Betrieb wie noch nie. Doch ausgerechnet jetzt leidet die internationale Staatengemeinschaft an einem Anfall von ,justice fatigue', von Justizmüdigkeit.
In Europa gilt das Haager Jugoslawien-Tribunal den meisten EU-Ländern inzwischen als ein lästiges Hindernis bei ihrer Erweiterungspolitik. Nur noch die Niederlande und Belgien bestehen konsequent darauf, dass Serbien vor einem EU-Beitritt die beiden letzten noch flüchtigen Angeklagten ausliefern muss: Ratko Mladic, den Hauptverantwortlichen für den Genozid von Srebrenica, und Goran Hadzic, den ehemaligen Führer der kroatischen Serben. In den USA, wo Barack Obama im Wahlkampf Null Toleranz für Kriegsverbrecher angekündigt hatte, will die Regierung nun die internationale Isolation des Sudan lockern - obwohl der Internationale Strafgerichtshof im Fall Darfur gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir Haftbefehl erlassen hat.
In Afrika, wo immerhin 30 Nationen das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet haben, erheben Politiker nach dem Haftbefehl gegen al-Bashir den Vorwurf des "Neokolonialismus". Ähnliche Kritik kommt von ganz anderer Seite. Für den in den USA lehrenden Politikwissenschaftler Mahmood Mamdani verkörpert der Internationale Strafgerichtshof einen "westlichen Fundamentalismus der Menschenrechte", der Konflikte wie im Sudan oder Uganda eher anheize als entschärfe. Manche afrikanische Kirchenführer und Friedensaktivisten glauben, die "strafende Gerechtigkeit" des IStGH missachte traditionelle Verfahren zur Konfliktlösung, die auf Ausgleich und Versöhnung setzen.
Schon ist man mitten drin im Streit: Muss Frieden - notfalls auch mit Kriegsverbrechern - nicht immer Vorrang haben vor Gerechtigkeit? Die schlechte Nachricht zuerst: Es gibt keine grundsätzliche und folglich auch keine einfache Antwort. Weder bedingen Frieden und Gerechtigkeit einander zwangsläufig, noch widersprechen sie einander. Sie bilden vielmehr ein Spannungsfeld, das in jedem einzelnen Fall anders aussieht. Der politische Aufruhr um den Haftbefehl gegen Omar al-Bashir bedeutet zunächst einmal keine Krise der internationalen Strafjustiz, sondern ist, salopp gesagt, ihr "täglich Brot".
Internationale Strafgerichte ermitteln längst nicht mehr nur in Nachkriegsgebieten. Sie begeben sich in jedem Sinne des Wortes mitten ins Getümmel, ermitteln in aktuellen Konflikten. Da geraten Politik und Justiz unvermeidlich auf Kollisionskurs. Nato-Generäle waren entsetzt, als Louise Arbour, die damalige Chefanklägerin des UN-Jugoslawien-Tribunals, im Mai 1999 Anklage gegen Slobodan Milosevic erhob - just als man mit diesem über ein Ende des Kosovo-Krieges verhandelte. Afrikanische Vermittler reagierten empört, als 2003 mitten in Friedensgesprächen Haftbefehl gegen Charles Taylor erlassen wurde. In beiden Fällen löste sich der vermeintliche Gegensatz zwischen Frieden und Gerechtigkeit wieder auf: Milosevic unterzeichnete den Abzug der jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo und wurde schließlich von der Opposition im eigenen Land entmachtet. Taylor ging auf massiven amerikanischen Druck ins Exil, was den Krieg in Liberia beendete. Wenige Jahre später saßen beide Männer auf der Anklagebank.
Daraus folgt nicht, dass al-Bashir demnächst eine Gefängniszelle des IStGH belegen wird. Daraus folgt vielmehr, dass internationale Strafjustiz nie außerhalb eines politischen Umfelds agiert. Jeder juristische Schritt hat politische Folgen. Die Drohkulisse internationaler Strafverfolgung kann - das haben die Erfahrungen im Sudan und in Uganda gezeigt - ein gutes Druckmittel sein, um Kriegsherren und Diktatoren überhaupt erst an den Verhandlungstisch zu zwingen. Das Ausstellen eines Haftbefehls kann die Lage vor Ort zunächst eskalieren: Omar al-Bashir warf als Vergeltungsschlag Hilfsorganisationen aus dem Land, die Flüchtlinge im Darfur versorgten. Die USA haben mit dem Regime in Khartoum nun die Konditionen für eine Rückkehr der meisten Helfer ausgehandelt. In Washington hat man sich für die Devise "Frieden geht vor Gerechtigkeit" entschieden. Noch braucht man al-Bashir als Verhandlungspartner. Das ist ein Rückschlag für den Strafgerichtshof. Aber es ist moralisch und politisch nicht verwerflich.
Diese politisch-juristischen Dramen mitsamt ihren großen und kleinen Teufelspakten sind schwer zu ertragen, aber sie sind Teil der Evolution der internationalen Strafjustiz. Sie mögen immer wieder die Weisheit mancher Entscheidungen und die Weisheit mancher Politiker, Ankläger und Richter in Frage stellen. Aber sie allein gefährden noch nicht das zugrunde liegende Prinzip, wonach schwerste Verbrechen wie Völkermord, ethnische Säuberungen oder sexuelle Kriegsgewalt geahndet werden müssen - notfalls auch gegen den Willen des betreffenden Staates, notfalls auch mit Hilfe eines internationalen Gerichts.
Wirklich gefährlich wird es, wenn die Idee einer universalen Gerechtigkeit einerseits mit überhöhten Erwartungen überfrachtet und andererseits mit Heuchelei unterminiert wird. Internationale Strafgerichte können, selbst wenn sie perfekt arbeiten, allein keine Gerechtigkeit herstellen. Für die Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen ist die Strafverfolgung der Täter außerordentlich wichtig. Aber Gerechtigkeit - und das wird in der aktuellen Debatte allzu leicht übersehen - bedeutet weit mehr: Ausreichende materielle Kompensation; Rückkehr von Vertriebenen; medizinische und psychosoziale Behandlung; wirtschaftlicher Wiederaufbau; unabhängige Medien, die sich gegen Geschichtsklitterung wehren; politische Stabilisierung; Aussöhnung ohne Leugnung.
"Was wir beitragen können", sagt Serge Brammertz, der derzeitige Chefankläger des UN-Jugoslawien-Tribunals, "ist die justizielle Aufarbeitung. Das ist eine enorm wichtige Form der Vergangenheitsbewältigung. Die Bereitschaft, Lehren daraus zu ziehen, ist eine andere Frage." Dieser Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung bleibt aber nur dann glaubhaft, wenn der Anspruch "Gleiches Recht für alle" aufrecht erhalten wird. Internationale Strafjustiz basiert auf dem Prinzip der universalen Gültigkeit der Menschenrechte. Wenn Staaten wie die USA, die als Vorreiter solcher Ideale gelten, deren universale Gültigkeit aufweichen, wenn sie sich von Hausjuristen das Folterverbot wegreden lassen, auf ihrem Boden illegale Haftzentren dulden, die juristische Aufarbeitung des Kosovo-Krieges oder der israelischen Angriffe im letzten Gaza-Krieg blockieren, dann entziehen sie einer internationalen Strafjustiz langsam aber sicher das Fundament, auf dessen Bau sie so stolz sind.