SICHERHEITSPOLITIK
Peter Scholl-Latour über seine Sicht der bipolaren Welt nach dem Zweiten Weltkrieg
Ende der fünfziger Jahre, irgendwo in der Magdeburger Börde. In einem Behelfsbunker, der als Gefechtsstand dient, beugen sich sowjetische Offiziere über einen Kartentisch. Die norddeutsche Tiefebene ist zu erkennen. Pfeile zeigen westwärts auf Braunschweig und Hannover. Diesen Pfeilen sollten die Panzer der Roten Armee folgen, sollten in wenigen Tagen das Ruhrgebiet, das Herz der westdeutschen Industrie, erreicht haben. Dass die Übung in der Magdeburger Börde ein Planspiel blieb und nie zum Ernstfall wurde, ist der Nato zu verdanken.
Die Gründung des Bündnisses vor 60 Jahren war ein Segen und eine Notwendigkeit für die Europäer, denn die Bedrohung durch die Sowjetunion war damals sehr real. Man musste wirklich befürchten, dass Moskau die Rote Armee in Richtung Westen in Bewegung setzen würde. Die westlichen Stäbe haben die Bedrohung sehr ernst genommen. Die Europäer wären selbst nicht in der Lage gewesen, sich zu verteidigen.
Die Tatsache der Bedrohung durch die Sowjetunion hat zwei Dinge zur Folge gehabt: Einerseits hat Amerika sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus Europa zurückgezogen. Andererseits wurden die Deutschen, die man ohne die Bedrohung aus dem Osten nicht so ohne weiteres als Partner akzeptiert hätte, dann doch recht schnell in die Nato-Reihen aufgenommen und wurden dort bald zum unersetzlichen Partner der Verteidigung.
Für die norddeutsche Tiefebene und für das Fulda-Gap wurden von der Nato Schlachtpläne ausgearbeitet. Dort waren die Angriffe der Roten Armee aufgrund der geografischen Gegebenheiten erwartet wurden. Die Befehlsstruktur stand unter US-Kommondo. Das war damals normal. Wer hätte es denn sonst machen können? Außerdem verfügten nur die Amerikaner über das nukleare Potenzial, um die Russen auch in dieser Hinsicht in Schach zu halten. Es entstand das berühmte "nukleare Patt".
Aus heutiger Sicht ist der Kalte Krieg glimpflich verlaufen. Es gab einen regelmäßigen Kontakt zwischen Washington und Moskau. Die Europäer waren davon aber ausgeschlossen. Wurde es ernst, griff man zum Roten Telefon und suchte nach einer Lösung. So haben die Russen, ehe sie 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, die Amerikaner vorher informiert. Und heute ist schon fast vergessen, dass Chrutschow und Eisenhower gemeinsam der französisch-britischen Landung in Suez 1956 entgegengetreten sind.
Die Beziehungen zu den USA und das Bild von den Amerikanern in Deutschland erlebten nach den fünfziger Jahren einen Wandel. Der Vietnam-Krieg war ein Fehler, berührte aber die Nato nicht, zumal auch keine alliierten Truppen in Vietnam waren. Aber dennoch entstand daraus eine antiamerikanische Stimmung, die sich natürlich auch auf die Nato übertrug. Das war in Deutschland ganz anders als in Frankreich, wo General de Gaulle die amerikanische Truppenpräsenz und die Unterordnung unter die amerikanischen Stäbe als Verminderung der nationalen Souveränität empfunden und schließlich die militärische Integration verlassen hatte. Frankreich war aber in einer anderen Situation als die Bundesrepublik, die in vorderster Linie lag und unmittelbar bedroht war.
Als die Sowjets die SS 20-Raketen stationierten, kam die Befürchtung auf, die damals sowohl von Helmut Schmidt als auch von Helmut Kohl geteilt wurde: Dass damit Europa eventuell zum Schauplatz eines Nuklearkrieges werden könnte. Denn die Reichweite der SS 20 war begrenzt, und die Amerikaner wären nicht automatisch von einem nuklearen Konflikt selbst betroffen gewesen. Dem musste ein Waffensystem entgegengestellt werden. Das war die Nachrüstung mit Pershing II.
Der Kalte Krieg war in vielerlei Hinsicht berechenbarer als das, was wir heute erleben. In der Vergangenheit gab es die bipolare Konfrontation. Der Charakter der heutigen Konfrontationen ist multipolar geworden. Neben die traditionellen Rivalen USA und Russland sind neue Mächte wie China und Indien getreten. Es gibt auch nichtstaatliche Akteure - diffuse Aufstandsbewegungen, die antiwestlich agieren und Unterstützung der Bevölkerung haben. Was man in Washington den "Kampf gegen den Islamofaschismus" nennt, sollte besser als "Islamische Revolution" bezeichnet werden.
Trotz aller Veränderungen nach 1989 ist die Nato nicht überflüssig geworden. Es muss aber zwischen dem atlantischen Bündnis und der Organisationsform Bündnis unterschieden werden. Das atlantische Bündnis muss weiterhin bestehen bleiben, denn die Amerikaner stehen uns immer noch am nächsten.
Die Nato ist aber schon viel zu weit ausgedehnt - wie übrigens auch die Europäische Union. Deutschland und Frankreich müssten den Amerikanern, die die Erweiterung protegieren, ein klares Stoppsignal geben. Auch die Struktur des Bündnisses entspricht nicht mehr den Erfordernissen der heutigen Zeit. Wir führen jetzt Feldzüge "out of area", wie man die Operationen außerhalb des Bündnisgebietes nennt.
Der Bruch ist nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entstanden, als unter Berufung auf Artikel 5 des Nato-Vertrages praktisch der Kriegsfall ausgerufen wurde und alle Partner zugestimmt haben. Die allgemeine Solidarisierung mit den USA war damals verständlich. Aber die Bombardierung des World-Trade-Centers in New York durch eine Bande von Fanatikern war kein wirklicher Kriegsfall. Dennoch sind wir jetzt in einer Situation, in der das das Bündnis verpflichtet ist, ohne geographische und zeitliche Begrenzung einen Krieg gegen den Terrorismus zu führen. In diesem Krieg wissen wir nicht, wo und wer der Feind ist. Wir stehen im Kampf gegen einen sehr nebulösen Gegner der "Islamischen Revolution". Dabei hat Deutschland noch Glück gehabt, nicht in die Irak-Kriege hineingezogen worden zu sein.
Die USA haben die erste Offensive in Afghanistan brillant geführt und die Städte überfallartig besetzt. Dabei wurde nur vergessen, dass der Krieg in Afghanistan erst nach dem ersten Sieg beginnt. Die Russen hatten die Städte Afghanistan genauso schnell besetzt.
Die Definition des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD), nach der Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird, beruht auf einer irrigen Sicht der Dinge: Die Attentate vom 11. September 2001 sind doch nicht in Afghanistan geplant worden. In den afghanischen Dörfern kannte man Al-Qaida nicht. Die Familie bin Laden kommt aus Saudi Arabien. In den afghanischen Lagern wurde infanteristische Grundausbildung trainiert. Für die Attentate brauchte man fliegerische Kenntnisse und Kenntnisse von Flugplänen. Die konnten nicht in afghanischen Camps erworben werden.
Ursprünglich ging der Westen - die Bundeswehr eingeschlossen - aufgrund eines UN-Beschlusses zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau nach Afghanistan. Das ist aber eigentlich Aufgabe ziviler Organisationen und nicht der Armee. Es war auch eine törichte Vorstellung, Afghanistan demokratisieren zu wollen. Das deutsche Konzept war und ist nicht stimmig, was auch daran liegt, dass es kein deutsches gesamtstrategisches Konzept gibt, so dass man immer mit mal mehr und mal weniger Widerspruch hinter den Amerikanern herläuft. Es hängt jetzt viel davon ab, was der neue amerikanische Präsident Obama in Afghanistan unternehmen wird. Obama hat im Unterschied zu Bush gesagt, dass er mit den Gegnern Kontakt aufnehmen und Gespräche führen will.
Gespräche würden sich zur Lösung der Probleme in Afghanistan anbieten, aber es gibt eine andere Entwicklung zu bedenken. Der Krieg in Afghanistan ist bereits über die Grenzen des Landes hinausgewachsen. Er hat seine Metastasen schon in Indien und Pakistan, wie die jüngsten Anschläge deutlich zeigen. Selbst deutsche Militärs sagen: Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen. Deutschland wäre besser beraten, sich um sein regionales Umfeld wie den Balkan zu kümmern, statt Expeditionen nach Asien und Afrika zu unternehmen. Der Balkan ist in keiner Weise befriedet. Es gibt ein absurdes Protektorat in Bosnien.
Auch im Kosovo ist alles unklar, und es gibt Probleme bei der albanischen Grenzziehung. Wir sollten uns auf die Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft konzentrieren. Im Hindukusch haben wir nichts zu suchen.
Peter Scholl-Latour ist als Autor
und Schriftsteller tätig. Er war
Chefkorrespondent des ZDF und
Chefredakteur des "stern".