Vor wenigen Monaten noch sah sie düster aus – die Zukunft Europas: Der Verfassungsentwurf zur Stärkung der EU von den Bürgerinnen und Bürgern Frankreichs und der Niederlande gekippt, der aus der Not geborene Lissabon-Reformvertrag von den Iren abgelehnt, Streit und Ratlosigkeit unter den 27 Mitgliedsstaaten über Klimaschutz, Zuwanderung und die Beziehungen zu Russland. Doch dann kam der tiefe Schock der Finanzkrise. Gleichsam über Nacht erwies sich die EU als Glücksfall. Mit überraschender Handlungskraft und Stärke parierte sie die Krise.
Hält der Impuls an? Wie ist es um die Zukunft Europas
bestellt? Im Streitgespräch von BLICKPUNKT BUNDESTAG
diskutieren darüber der polnische Publizist Adam Adam
Krzemiñski und der Vorsitzende der Fraktion Die Linke im
Bundestag Gregor Gysi. Beide stammen aus ehemals kommunistischen
Gesellschaften. Doch ihre Sichtweise ist unterschiedlich.
Eigentlich sollte das Topthema auf dem EU-Gipfel nicht die
Finanzkrise sein, sondern eine Krise, die die EU schon seit Monaten
lähmt und beschäftigt: Der Streit um den
EU-Reformvertrag. Im Juni hatten die Iren mehrheitlich gegen diesen
Vertrag gestimmt und so verhindert, dass er pünktlich 2009 in
Kraft tritt. Auch in anderen europäischen Ländern setzten
Zweifel am Reformwerk, Ärger über mögliche
Demokratiedefizite sowie nationale Egoismen den Europaprotagonisten
kräftig zu. Zwar haben
Zwar haben die meisten EU-Regierungen den Vertrag ratifiziert, doch
bei vielen Menschen nagen weiter Zweifel an dem gewaltigen Gebilde,
das sich inzwischen vom Atlantik bis zur russischen Grenze
erstreckt. „Zu anonym, zu wenig transparent”,
heißt es bei vielen, die weniger Anweisungen aus Brüssel
über die Form und Größe von Gurken, sondern
konkrete Antworten erwarten auf ihre Fragen: Was will dieses Europa
sein? Wo liegen seine Grenzen? Für welche Sozialstandards
setzt es sich ein? Wie steht es um die demokratische Beteiligung
der Bürger?
In Deutschland klagen in einer interessanten Kombination die
Bundestagsfraktion Die Linke sowie der CSUBundestagsabgeordnete
Peter Gauweiler vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag
von Lissabon. Gauweiler, weil er befürchtet, dass sich die
Bundesrepublik, ohne das Volk zu fragen, in einem europäischen
Bundesstaat auflösen könnte wie ein Stück Zucker im
Kaffee; die Fraktion Die Linke, weil sie den EU-Vertrag ohne
Volksabstimmung für ein undemokratisches „Europa der
Regierungen” hält und weil „von diesem
Reformvertrag kein Frieden ausgeht”, wie Parteichef Lothar
Bisky im Bundestag erklärte.
Der Orkan der Finanzkrise hat nun viele Wolken und Nebelfelder
über Europa verjagt. Unerwartete Klarheit liegt über der
EU. Nicht nur skeptische Präsidenten und Regierungschefs
singen plötzlich ihr Loblied, auch viele Bürger erkennen
mehr denn je den Nutzen eines geeinten Europa und eines starken
Euro in einer globalisierten Welt.
Die neuen Helden der EU – in erster Linie Frankreichs
Staatspräsident Nicolas Sarkozy, Großbritanniens Premier
Gordon Brown und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel –
wollen jedenfalls den gewonnenen Schwung nutzen. Mit neuer Hoffnung
blickt man in Brüssel und vielen europäischen
Hauptstädten auf die vielfältigen Bemühungen, den
Lissabon-Prozess wieder flottzubekommen. Und der Blick geht noch
weiter nach vorn: Nachdem die Europäische Union im Umgang mit
der Finanzkrise Führung bewiesen habe, müsse Europa nun
für einen „neuen Kapitalismus” und für eine
neue Ordnung der Weltfinanzen werben, heißt es. Große
Ziele, wo doch noch nicht einmal das eigene Reformwerk vollendet
ist.
Erschienen am 19. November 2008
Lissabon-Vertrag
Informationen der EU über den Lissabon-Prozess:
europa.eu/lisbon_treaty