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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: Bestseller, rot-weiß
Gültig ab: 16.12.2009 14:05
Autor: Hartwig Bierhoff
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Bestseller, rot-weiß

120 Jahre „Kürschner”

Er war ein Geheimrat, der Herr Kürschner. Aber Geheimniskrämerei war seine Sache nicht. 1890 gab der Lexikograph ein Abgeordnetenhandbuch heraus und stellte darin erstmals alle Abgeordneten des Reichstags vor:„Knapp im Wort, ausreichend zur Orientierung, einfach ein Bild, wie es die Kürze der Zeit bedingt.” Seit bald 120 Jahren sorgt der „Kürschner” für Transparenz und Informationen im parlamentarischen Geschehen. Und er ist immer noch rot-weiß gestreift.

Kürschners Volkshandbuch aus den Jahren 1890, 1957 und 2005
Kürschners Volkshandbuch aus den Jahren 1890, 1957 und 2005
© NDV Neue Darmstädter Verlagsanstalt

Natürlich kennt ihn jeder, der sich für Politik, insbesondere für die parlamentarische Arbeit, interessiert – „den Kürschner”. Rot-weiß gestreift kommt dieses Volkshandbuch daher – seit nunmehr 120 Jahren. In den Abgeordnetenbüros findet man es auf fast jedem Schreibtisch – in der Bundestagsverwaltung ebenso. In Pressestellen trifft man es, bei Bundes- und Landesbehörden. In den Botschaften ist das Buch ebenso unverzichtbar wie bei den Vertretern der Religionsgemeinschaften in Berlin. Den Journalisten dient es manchmal als erste Quelle, wenn man beispielsweise den jüngsten Abgeordneten sucht oder den neu gewählten Parlamentarischen Geschäftsführer einer Fraktion des Hohen Hauses.

Was heute zu einem Standardwerk für die erste und zugleich hilfreiche und umfängliche Information über das deutsche Parlament geworden ist, hat seinen Ursprung in den Anfängen der parlamentarischen Arbeit in Deutschland. Es gab damals – in der Zeit des Kaiserreichs – noch keine parlamentarische Demokratie, wie wir sie heute kennen. Damals empfand man an allerhöchster Stelle wenig Sympathie für alles, was sich mit dem Parlament und seinen Mitgliedern beschäftigte. So war es auch nicht überraschend, dass es bis 1890 in Deutschland keine Bücher oder gar Nachschlagewerke über den Reichstag und seine Mitglieder gab. Alles, was mit dem politisch-parlamentarischen Geschehen zu tun hatte, sollte nicht zu große Kreise ziehen – daher auch die publizistische Geheimniskrämerei in einem Land, in dem der oberste Herrscher sich noch auf Gottes Gnade berief und ein selbstbewusstes Parlament, gewählt in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl, noch Zukunftsmusik war.

Nur: Einem Geheimrat gefiel diese Art des offiziösen Versteckens nicht. Er hieß Joseph Kürschner, war von Beruf Schriftsteller und Lexikograph. In seinem Buch „Der neue Reichstag”, das sich aus schließlich dem Parlament und seinen Mitgliedern widmete und im Jahr 1890 erschien, schrieb er im „Geleitswort”: „Mit der Fortentwicklung unseres geeinten Vaterlandes ist die Anteilnahme an seinem parlamentarischen Leben in allen Kreisen gewachsen. Die letzten Reichstagswahlen haben dafür einen glänzenden Beweis erbracht, indem sie so zahlreiche Wähler an die Urne führten wie nie zuvor. Dem deutschen Volk unmittelbar nach dem Endergebnis des Wahlgeschäfts seine Vertreter in Wort und Bild vorzuführen, ist die Aufgabe dieses Buches: knapp, natürlich im Wort, aber ausreichend zur Orientierung, einfach ein Bild, wie es die Kürze der Zeit bedingt.”

Um in den Buchhandlungen unter den vielen Publikationen aufzufallen, kam es schon damals rot-weiß gestreift daher, mit dem Adler als Prägung auf der Umschlagseite. Auffällig – und heute kaum noch vorstellbar – ist in der ersten Ausgabe von 1890, dass bei einigen Mitgliedern des Reichstags der Biographie kein Foto beigefügt wurde.

Seite aus einem frühen Kürschner

© NDV Neue Darmstädter Verlagsanstalt

Mancher Abgeordnete des Reichstags hatte im „Kürschner” eine passende Gelegenheit gesehen, sich über seinen politischen Konkurrenten zu beschweren, und schrieb an Kürschner: „Porträt verweigert aus unten angegebenen Gründen”. Dort stand dann folgende Erklärung des Wilhelm Freiherr von Gültlingen, Mitglied der Reichspartei, aus Calw: „Frh. von Gültlingen lehnte die Mitteilung biographischer Daten und eines Bildes ab, wegen der ihm unsympathischen ?Art und Weise′, wie ein anderer Abgeordneter ?seine Wahl gemacht habe′, und ermächtigt den Herausgeber, hiervon Kenntnis zu geben.” In der ersten Ausgabe war noch sehr Persönliches zu lesen, so etwa der Hinweis darauf, in welchem Hotel der Abgeordnete in Berlin gastierte, aber auch, welche Schriften man selbst herausgab oder eigenhändig verfasst hatte. Da gibt es zum Beispiel den Abgeordneten Otto Böckel aus dem hessischen Marburg, der sich im Handbuch als „Antisemit” neben seiner Parteizugehörigkeit zur „Deutschen Reformpartei” bezeichnen ließ. Bei anderen Abgeordneten lässt sich in den knappen Angaben zur Person die ganze politische Vita ablesen. Unter Hermann Molkenbuhr, Sozialdemokrat aus Glückstadt in Schleswig-Holstein, liest sich das so: „Cigarrenmacher in Kellinghusen. Geb. 11.9.1851 zu Wedel in Holstein (konfessionslos). Besuchte die Volksschule in Wedel, lernte als Cigarrenarbeiter, wurde 1881 auf Grund des Sozialistengesetzes ausgewiesen und ging infolge dessen 1881 nach Amerika, kehrte aber 1884 nach Deutschland zurück. Mitglied des Reichstags seit 1890.” Damals war das Handbuch tatsächlich noch ein solches, es maß exakt 4,7 Zentimeter in der Breite und 7,4 Zentimeter in der Höhe – ein Handschmeichler sozusagen. Heute ist der „Kürschner” größer und damit auch augenfreundlicher und besser handhabbar. Aber an dem Grundmuster, wie es Joseph Kürschner 1890 beschrieben hat, hat sich bis in die Gegenwart nichts Wesentliches verändert.

Der „Kürschner” überlebte das Kaiserreich in vielen weiteren Auflagen. Er wurde auch in der Weimarer Republik als Handbuch des Reichstags genutzt. Bis 1933 erschien der „Kürschner” im Berliner Hermann Hillger Verlag. Er war inzwischen zum Klassiker für Informationen aus dem Parlament geworden. Im gleichen Jahr wurde er von den Nationalsozialisten verboten.

Abgeordnete bei der Lektüre des vorläufigen „Kürschners”
Unverzichtbar: Abgeordnete bei der Lektüre des vorläufigen „Kürschners” im neuen Bundestag
© DBT/photothek.net/Thomas Köhler

Das 1949 erschienene Handbuch zum 1. Deutschen Bundestag war in seiner Aufmachung und Gestaltung ein anderes Buch geworden – allerdings nur für die erste Wahlperiode. Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte dieses Buches verfasste das deutsche Staatsoberhaupt das Geleitwort zum Handbuch des Parlaments: Bundespräsident Theodor Heuss, in der Weimarer Zeit Abgeordneter des Reichstags, erinnerte darin an „das ganz kleine Format, Kürschners Reichstagshandbüchlein”, das „wir fleißig gebraucht” haben. Dies mag dazu beigetragen haben, dass der „Kürschner” in der zweiten Wahlperiode 1953 in alter Aufmachung 20 Jahre nach dem Verbot durch die Nationalsozialisten als „Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag” in der NDV Neuen Darmstädter Verlagsanstalt erscheinen konnte. Seither ist es Brauch geworden, dass die jeweiligen Parlamentspräsidenten einen Beitrag „Zum Geleit” schreiben.

Was die Angaben zu den Abgeordneten betrifft, so wird sich auch die neuste Ausgabe streng an den tradierten Strukturen orientieren. Veränderungen sind natürlich deutlich zu erkennen – sie sind Ausdruck deutscher Geschichte und markieren den gesellschaftlich-politischen Wandel. War zum Beispiel im ersten „Kürschner” von 1890 der gesellschaftliche Stand zentraler Bestandteil der Angaben zur Person, so trat die persönliche Berufslaufbahn in der Weimarer Republik deutlich in den Vordergrund. Diese Angaben fanden im ersten Handbuch des Deutschen Bundestages (1949) „Die Volksvertretung” ihre Fortsetzung. Auffällig ist, dass zumeist keine Angaben über die Zeitspanne von 1933 bis 1945 gemacht werden, außer gelegentlichen Hinweisen auf eine „Teilnahme am Zweiten Weltkrieg” oder der Anmerkung: „1933 dreimalige Verhaftung. Konzentrationslager Fuhlsbüttel.”

Privates ist auch politisch

Auch in der Gegenwart lässt sich im „Kürschner” gesellschaftlicher Wandel ablesen. Heute ist es selbstverständlich, dass die meisten Mitglieder des Deutschen Bundestages – wenn auch nicht alle – offen über ihre Person Auskunft geben. So kann der Leser zumeist erfahren, wer verheiratet oder geschieden ist, wer in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften lebt, welcher Religionsgemeinschaft ein Abgeordneter angehört oder ob er oder sie konfessionslos ist. Selbst Fremdsprachenkenntnisse werden angegeben. Und auch in Sachen Aktualität hat sich manches geändert: Heute werden in den Wahlperioden mehrere Ausgaben herausgebracht – in der vergangenen, der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages waren es sechs neue Auflagen. Zumeist sind sie notwendig, weil durch Nachrücker, Rücktritte, Austritte aus Fraktionen und Veränderungen in der Besetzung von Ausschüssen Aktualisierungen erforderlich werden.

Die Geleitworte reflektieren Veränderungen wie Konstanten der öffentlichen Wahrnehmung des Parlaments und seiner Bedeutung im politischen Gefüge unseres Landes. So schrieb Bundestagspräsident Lammert in seinem Beitrag zum „Kürschner” der vergangenen Wahlperiode: „Auf die Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages wartet viel Arbeit, schließlich steckt unser Land in einem tief greifenden Wandlungsprozess. Der Bundestag ist das nationale Forum dieses Prozesses und Zentrum der Entscheidung – hier schlägt das Herz der Demokratie ... Der Bundestag als das einzige direkt gewählte Verfassungsorgan in Deutschland ist nicht Vollzugsorgan der Regierung, sondern ihr Auftraggeber. Gerade in Zeiten großer Koalitionsmehrheiten ist das Selbstbewusstsein des Parlaments als Ganzes gegenüber der Regierung besonders gefordert. Die Abgeordneten wissen um ihre Verantwortung dafür, wie unser Land regiert und zukunftsfähig gemacht wird.” Was 2005 richtig war, kann auch im neuen Deutschen Bundestag noch volle Gültigkeit beanspruchen.

Der „Kürschner” für die 17. Wahlperiode wird Anfang 2010 erscheinen. Er sorgt für Informationen und Transparenz über das parlamentarische Geschehen: bald seit 120 Jahren in Deutschland und seit 60 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland.

Glückwünsche zum Jubiläum. Und viele Erkenntnisse beim sorgfältigen Lesen dieses rot-weiß gestreiften Volkshandbuches.

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Text: Hartwig Bierhoff 
Erschienen am 17. Dezember 2009

120 Jahre „Kürschner”

Der „Kürschner” im Internet:

www.kuerschner.info


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