Transparent, elegant, leicht – so wird die Architektur der
brasilianischen Hauptstadt Brasilia gerühmt. Vor allem der
Platz der drei Gewalten gilt als Höhepunkt der Architektur,
geschaffen 1960 vom Brasilianer Oscar Niemeyer: rechts der
Präsidentensitz, links der oberste Gerichtshof und mittendrin
in zwei Halbschalen der Kongress mit Abgeordnetenhaus und Senat.
Fotografen lieben die schneeweißen Schüsseln unter den
dahinfliegenden Wolken. Doch der Eindruck von Moderne und
Leichtigkeit täuscht ein wenig: Es gibt wenige Parlamente, die
so schwer zu überschauen und verwinkelt sind. Lange, teilweise
unterirdische Gängeverbinden die Kammern des Kongresses mit
dem zweitürmigen Abgeordnetenhochhaus. Überdimensionale
Ledersofas, von Niemeyer entworfen, aber kaum zu benutzen, stehen
im Halbdunkel der Lobby. Der Senat ist vollständig in
dunkelblauen Samt gekleidet. Der deutsche Fotograf Andreas Gursky
hat die zweite Kammer porträtiert wie eine über allem
schwebende, beleuchtete Muschel ? und damit perfekt das
Selbstverständnis der 81 Senatoren getroffen. Die werden auf
acht Jahre gewählt und sind über das politische
Tagesgeschäft erhaben. Mit „Ihre Exzellenz” reden
sie sich an, wer „Sie” oder gar „Du”
benutzt, bekommt einen Verweis. Die Senatssitzungen gleichen
meistens Versammlungen eines Golfklubs. Die Politik wird vorher
gemacht, in den Edelrestaurants der Hauptstadt, in den Villen der
Lobbyisten oder ? zur Not ? auch mal in den Korridoren vorm
Senatsgebäude. Im Abgeordnetenhaus dagegen geht es zur Sache:
Im Halbdunkel des Sitzungssaales schlägt kaum einer der 513
Abgeordneten seine Zeit mit Aktenstudieren tot. Der normale
brasilianische Abgeordnete steht im Plenum, hält ein Handy am
Ohr und klopft seinen Gesin-nungsgenossen auf die Schultern. Wer
auffallen will, muss seine Redezeiten provokativ nutzen ?
brüllen und schimpfen, in Tränen ausbrechen oder
philosophische Zitate gehören zum Repertoire. Auch hier wird
die Politik in den Lobbys gemacht. Ein Abgeordneter drückt es
so aus: „Meine Popularität kann ich jeden Tag neu daran
messen, wie oft ich auf dem Weg von meinen Büro in den
Sitzungssaal begrüßt werde.”
Auch die zukunftsweisende Architektur hat nicht verhindern
können, dass der Kongress in einer Sinnkrise steckt. Er
verliert an Macht. Kaum ist eine neue Regierung installiert,
versuchen Abgeordnete durch Parteiwechsel, einen Fuß in die
Regierungskoalition zu bekommen. Von den 513 Abgeordneten haben 223
schon mal ihre Partei gewechselt. Dennoch lässt sich das
Parlament kaum zu einer stimmfähigen Mehrheit versammeln.
Deswegen regiert der Präsident meist per Dekret. Immer
öfter fällt der Oberste Gerichtshof politische Urteile,
die eigentlich das Parlament entscheiden müsste. Inmitten der
Niemeyer-Ästhetik versinkt der Kongress in einem politischen
Vakuum. „Architektur ist keine simple Frage der
Ingenieurskunst. Sie ist eine Manifestation des Geistes, der
Fantasie, der Poesie”, sagte Niemeyer einmal.
Verständlich, dass der Meister von Brasilia enttäuscht
war.
Text: Alexander Busch
Erschienen am 19. November 2008
Congresso Nacional
Die Kammern im Internet:
www.senado.gov.br
www.camara.gov.br