Nicole Sonne ist freiberuflich für den Besucherdienst des Deutschen Bundestages tätig. Sie sagt, es sei die beste Aufgabe, die sie je hatte. Und das strahlt sie auch aus.
Die Frage lautet: Warum hängt im Plenarsaal ein Adler und kein Krokodil? Nein, darüber geht man nicht mit einem Lächeln hinweg. Nicht, wenn man es gut machen will. Man gibt sich Mühe, klug zu antworten. Was hat der Adler dort zu suchen? Was macht ihn besser als ein Krokodil?
Nicole Sonne erzählt diese kleine Geschichte und lächelt. Es sei oft so überraschend, sagt sie, worauf Kinder kommen und welche verschlungenen Wege ihre Gedanken gehen, bis sie dann in einer „Krokodilfrage” münden. Elf Jahre arbeitet die gebürtige Rheinländerin – das ist sie, auch wenn ihr Geburtsort auf Barbados in der Karibik liegt – nun schon als Honorarkraft für den Besucherdienst des Deutschen Bundestages. Wahrscheinlich ist sie voller kleiner und größerer Geschichten, die von all den Menschen handeln, die hierher kommen, um sich etwas erzählen zu lassen, zu schauen und zu staunen, vielleicht auch, um Ärger loszuwerden oder einfach nur eine wichtige Frage. Die in größeren und kleineren Gruppen durch das Reichstagsgebäude laufen, geleitet und begleitet von einer wie Nicole Sonne, die ihnen etwas nahebringen möchte, ohne belehrend zu wirken, die sie begeistern will – nicht einfach nur für das Haus, sondern auch für das, was hier geschieht und worauf es gründen kann.
Dann stehen die Leute zum Beispiel in der Abgeordnetenlobby, wo Katharina Sieverdings Kunstwerk der von 1933 bis 1945 verfolgten, ermordeten und verfemten Mitglieder des Reichstages der Weimarer Republik gedenkt. Dies sei ein Ort, sagt Nicole Sonne, den sie für einen der schönsten und wichtigsten halte. Und der auch nie seine Wirkung auf die, die zu Besuch gekommen sind, verfehle.
In Texten und Meldungen über die Arbeit des Besucherdienstes, zu dem 39 fest angestellte Mitarbeiter gehören und für den rund 130 Menschen freiberuflich tätig sind, ist zu lesen, dass jährlich rund eine Million Menschen dessen Angebote in Anspruch nehmen. Das sind rund 2.800 an jedem Tag. Sie kommen, um sich durch die Häuser des Bundestages führen zu lassen, auf der Besuchertribüne im Plenarsaal zu sitzen, Bundestagsdebatten zu verfolgen, Vorträge über die parlamentarische Demokratie und die Geschichte des Reichstagsgebäudes zu hören oder über die Kunstwerke und die Arbeit des Parlamentes. Sie besuchen Sonder- und Großveranstaltungen, Jugendliche nehmen an Planspielen teil und schlüpfen in die Rolle von Politikerinnen und Politikern, Bundeswehrangehörige sitzen in Parlamentsseminaren und diskutieren mit Vertretern aller Fraktionen über Krieg und Frieden. Und vier Mal im Jahr kommen die Jüngsten zu den Kindertagen des Parlamentes und wollen zum Beispiel die Sache mit dem Adler und dem Krokodil geklärt haben.
Als Nicole Sonne vor elf Jahren, damals noch in Bonn, freiberuflich beim Besucherdienst begann, lagen weltgereiste Jahre hinter ihr. Sie hatte in Warschau gelebt und in Washington. Sie war Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit in zwei großen Unternehmen gewesen. Nicole Sonne fand die Entscheidung des Parlamentes, nach Berlin zu gehen, in die neue Hauptstadt des vereinten Deutschlands, gut, und sie ist gern nach Berlin gezogen. Mit ihrer Familie – Kind und Kegel und Eltern – kam sie her, damit Nähe nicht verschwindet. Sie sagt: „Was ich hier tue, ist die schönste Aufgabe, die ich jemals hatte. Sie passt zu mir, denn ich bin ein offener, kommunikativer Mensch. Neugierig auf andere. Sie ermöglicht mir, meine Erfahrungs- und Erlebniswelt ständig zu erweitern. Wissen Sie”, sagt sie und malt mit den Händen einen kleinen Kreis in die Luft, „Besucherführungen sind sozusagen die Visitenkarte des Parlamentes. Und wenn man es gut machen will, muss man Freude an dem haben, was man tut. Es geht nicht darum, andere von etwas zu überzeugen. Es geht darum zu erklären, wie Demokratie funktioniert. Natürlich will ich denen, die vielleicht skeptisch oder verärgert oder verdrossen sind, aus ganz anderen Erfahrungswelten kommen, möglichst viel an die Hand geben. Sie sollen besser informiert sein, wenn sie den Bundestag verlassen. Und natürlich will ich das Image des Parlamentes, der Abgeordneten verbessern. Immer aber auf der Grundlage der Wahrheit.”
Offenheit gegenüber allen und jedem sei besonders wichtig, betont Nicole Sonne. Die Art, wie sie redet, auf Augenhöhe, mit Blickkontakt, geradlinig und lieber eine Pause zum Überlegen wagend als einfach mal so dahingesagt, unterstreicht das. Offenheit nährt sich auch daraus, jede und jeden ernst zu nehmen und sich darauf einzulassen, dass die gleiche Frage von unterschiedlichen Menschen gestellt dann eben auch von verschiedenen Geschichten sprechen kann, die hinter der Frage stecken.
Und was sind die ganz besonderen Momente? „Viele”, sagt Nicole Sonne. „Sehr viele. Einmal hatte ich eine große Gruppe vom Landfrauenverband. Und nach der Führung kam eine Frau auf mich zu und sagte, dies sei der schönste Tag in ihrem Leben gewesen, dass sie dies heute hier erleben durfte, hätte ihr so sehr gefallen. Das ist berührend. Es bewegt mich, wenn hier Menschen herkommen, die den Holocaust überlebt haben. Wenn uns Zeitzeugen besuchen, die den zerstörten Reichstag kennen, die Zeiten des Kalten Krieges in dieser Stadt erlebt haben, das alles sind besondere Momente.”
Und die anstrengenden Momente? Nicole Sonne atmet ein und atmet aus, schaut aus dem großen Fenster, durch das man über Grün hinweg hinüber zum Kanzleramt sehen kann, und denkt nach. Es hinge ja trotz aller Anstrengungen und Bemühungen nicht nur von einem selbst ab, sagt sie, ob man die Menschen erreicht. Bei Schülerinnen und Schülern sei es manchmal nicht einfach, die Mauer vermeintlichen oder selten auch wirklichen Desinteresses zu durchstoßen. Wenn ihr eine Gruppe von Menschen gegenübersitzt oder -steht, von denen viele ohne Arbeit und manche von denen auch ohne Hoffnung seien, dann komme es vor, dass jemand sagt: „Das ist alles schön, Frau Sonne, was Sie da erzählen. Aber mir hilft es nicht.” Und das müsse man dann auch so stehenlassen. Denn auch dies verlange der Respekt vor den anderen.
In diesem Moment kommt einem der Gedanke, in wie vielen Fotoalben landauf, landab und über die Grenzen hinaus Nicole Sonne verewigt sein mag. Vielleicht untertitelt mit „Unser Besuch im Reichstag. Frau Sonne, unsere Führerin, erzählte viel Interessantes. Und oben auf dem Dach und in der Kuppel konnten wir die ganze Stadt sehen.” Nicole Sonne lacht und sagt, darüber hätte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Aber ja, möglich sei es schon, dass ihr Konterfei in dem einen oder anderen Familienalbum zu sehen sei.
Rund drei Millionen Menschen besuchen jedes Jahr den Deutschen Bundestag. Manche nur ganz kurz, weil sie nichts weiter wollen als rauf auf die Kuppel und einen Blick auf die Welt ringsum und in den Plenarsaal werfen. Für Nicole Sonne bleibt, so sagt sie, alles voller Überraschungen. Jeder Mensch ist anders, die Dinge wiederholen sich nicht, die Welt dreht und verändert sich. „Was für eine schöne Aufgabe ich habe”, sagt sie.
Text: Kathrin Gerlof
Erschienen am 7. August
2009