IRAK
Nach vier Jahren Besatzung ist aus Bagdad eine geteilte Stadt geworden. Alltag in Zeiten des Terrors.
Schon der Anflug auf die irakische Hauptstadt ist anders als in den vier Jahren zuvor. Die Zeiten des Sinkflugs sind vorbei, als das Gefühl im Magen immer flauer wurde, je enger der Pilot Kreise über dem Bagdader Flughafen zog und die Maschine dabei dramatisch an Höhe verlor. Aus Sicherheitsgründen war diese Praxis notwendig geworden, nachdem mehrere zivile Verkehrsmaschinen beschossen worden waren und nur das Flughafengelände als sicher galt. Jetzt setzt die Boeing der "Iraqi Airways" schon außerhalb des Zielorts zur Landung an und geht langsam nach unten, so wie es überall sonst der Fall ist. Im Flughafengebäude herrscht reges Treiben. Ankommende und Abfliegende trinken noch schnell einen Mokka oder Tee, Kofferträger schleppen Unmengen von Gepäck hin und her. Nur die vielen bewaffneten Männer mit einer Plastikkarte um den Hals, auf der "Operation Iraqi Freedom" - Freiheit für Iraq - steht, lassen erahnen, dass der Reisende in einem Land angekommen ist, in dem alles andere als Normalität herrscht.
Am 20. März 2003 marschierten Amerikaner und Briten von Kuwait aus in den Irak ein. Drei Wochen später stülpte ein amerikanischer GI den Banner mit "Stars and Stripes" über die Bronzestatue Saddam Husseins am Firdous Platz in Bagdad, bevor ein Abrahams-Panzer der jubelnden Menge half, die Figur vom Sockel zu stürzen. Der Blitzkrieg war zu Ende, Bagdad nahezu unversehrt. Die Kämpfe um die Hauptstadt waren minimal, die irakische Armee leistete kaum Widerstand. Gezielte Bombardements der US-Air Force zerstörten Paläste des ehemaligen Herrschers, das Hauptquartier der Baath-Partei und des Geheimdienstes, Gebäude der Republikanischen Garde, einer Spezialeinheit der irakischen Armee, und das Minis-terium der Luftstreitkräfte. Alles andere blieb weitgehend heil. Vier Jahre danach sieht Bagdad aus wie ein Schlachtfeld. Ganze Straßenzüge sind zerbombt, Marktplätze verwüstet. Die berühmte Straße der Bücher, Mutanabi, ist kaum wiederzuerkennen. Verkaufsstände und Läden liegen in Trümmern, dunkelrotes Blut klebt an dem aufgerissenen Asphalt, Bücherberge sind für den Müllabtransport aufgeschichtet, Häuserfronten verkohlt. Die Autobombe explodierte vor knapp zwei Wochen und riss über 80 Menschen in den Tod. Die Verletzten, die die täglichen Anschläge in der irakischen Hauptstadt fordern, zählt schon lange niemand mehr.
Der Sicherheitsplan zur "Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung" ist die letzte Chance, das Blatt des ausufernden Chaos noch zu wenden. Seit Mitte Februar in Kraft, zeigt er erste Ergebnisse: "Die Menschen atmen auf", beobachtet Mohammed in seinem Viertel Mansur, am Westufer des Tigris. Wie die meisten Einwohner der Sechs-Millionen-Metropole ist der studierte Elektroingenieur arbeitslos. Der Terror hat nahezu die gesamte Volkswirtschaft lahm gelegt. Jobs gibt es fast nur noch im öffentlichen Dienst oder bei den Amerikanern. Nachdem sich wochenlang niemand mehr auf die Straße traute, fast alle Geschäfte geschlossen waren, gehen die Leute seit kurzem wieder einkaufen, öffnen die Läden. Zwar sei man noch skeptisch, bleibe nicht allzu lange von zu Hause weg, gehe keinen Handel mit den Verkäufern ein, wie es in orientalischen Ländern sonst üblich ist. "Jeder geht schnell in das Geschäft, bestellt das, was er braucht, bezahlt und geht. Wir atmen auf, aber noch nicht durch." Auch Frauen sieht man wieder auf der Straße - verschleiert. Ohne Ausnahme. "Für uns sind diese Terrorzeiten am schlimmsten", reflektiert Boushra, Mohammeds Frau, die Situation in Bagdad. Monatelang setzte sie keinen Fuß vor die Haustür. Im Nachbarbezirk hätten radikale Islamisten eine Bekannte umgebracht, weil sie sich nicht verschleiern wollte und Hosen trug, anstatt dem von ihnen vorgeschriebenen langen Rock. Amerija ist zur Hochburg radikaler Sunniten geworden. Christen und Schiiten wurden mit Gewalt vertrieben. Wer nicht gehen wollte, wurde umgebracht. Jetzt ist der Stadtteil weitgehend abgeriegelt. Ein einziger Eingang erlaubt den Zutritt. Auf einem Banner steht: Islamische Republik Irak. Auf der anderen Seite des Tigris ist es umgekehrt. Hier wurden die Sunniten aus den mehrheitlich schiitischen Vierteln gewaltsam vertrieben. Sadr City, wo inzwischen mehr als zwei Millionen Schiiten leben, steht beispielhaft für die Säuberungen im Bagdader Osten. In Qahira (Kairo), dem angrenzenden Bezirk, wurde als erster der sunnitische Imam der Moschee ermordet. "Damit alle wussten, was die Stunde geschlagen hatte", erklärt Abdelkadr seinen Wegzug aus dem Viertel. Seine Frau ist Schiitin, er Sunnit. Sie durfte bleiben, er musste gehen. Inzwischen ist aus dem ehemals gemischten Stadtteil ein rein schiitischer Distrikt geworden. Die Trennung Bagdads in einen schiitischen Osten und einen sunnitischen Westen vollzieht sich immer mehr. Der Tigris ist Trennlinie und Ortsbestimmung zugleich.
Es werde noch mindestens bis Juli dauern, ehe er verlässlich einschätzen könne, ob der Sicherheitsplan tatsächlich greift, versucht Washingtons General für den Irak, David Petraeus, die Erwartungen an ihn und die Operation zu dämpfen. Es wurde damit begonnen, zwischen den einzelnen Stadtteilen gemischt besetzte Wachposten einzurichten: Amerikaner Seite an Seite mit Irakern. Rund um die Uhr sollen diese Posten künftig besetzt sein. Seit zwei Jahren hat Bagdad nicht mehr so viel amerikanische Präsenz auf seinen Straßen gesehen. Qassim findet das gut. "Wir hatten drei Regierungen in den letzten vier Jahren und keine hat es zustande gebracht, uns zu beschützen", erklärt der 48-jährige Obstverkäufer in Karrada, am Ostufer des Tigris, seine Haltung. Die letzte Hoffnung seien nun die Amerikaner. Der Schiit, der so viele Hoffnungen auf die Schiitenallianz gesetzt hatte, die bei den Parlamentswahlen die Mehrheit der Stimmen erhielt und seitdem den Ministerpräsidenten stellt, sieht sich in seinen Erwartungen getäuscht. "Von Monat zu Monat ist es schlimmer anstatt besser geworden." Der letzte Strohhalm scheinen die sonst so verhassten Besatzer geworden zu sein. Dass auch sie eine Mitschuld haben könnten, hört man dieser Tage in Bagdad kaum. Die Iraker haben gelernt, im Hier und Jetzt zu leben. Was gestern war, zählt beim täglichen Überlebenskampf nicht mehr.