Kulturlandschaften
Nicht nur Bauwerke künden von vergangenen Epochen. Ganze Regionen erzählen davon, wie Menschen ihren Lebensraum gestaltet haben.
Wenn Menschen einen Landschaftsraum besiedeln, verändern sie zwangsläufig die natürlichen Gegebenheiten. Sie bauen sich Unterkünfte, legen Wege an und nutzen den Boden. Historisch betrachtet beginnt diese Landschaftsveränderung mit der Sesshaftwerdung des Menschen im Neolithikum vor etwa 7.500 Jahren.
Neueren Datums ist die Bezeichnung mancher der so über die Jahrhunderte geschaffenen Strukturen als Kulturlandschaften. Welchen Wert sie für die Menschen der jeweiligen Region und darüber hinaus haben, beweisen nicht nur die Bemühungen, ganze Landstriche wie etwa das Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz bei der Unesco als Weltkulturerbe verzeichnen zu lassen. Auch und gerade im regionalen Kontext wächst das Bewusstsein einer historischen Verbindung der Menschen mit ihrem landschaftlichen Umfeld. Zum Naturschutzgedanken gesellt sich die Wertschätzung der von den Vorfahren geschaffenen Bauten einschließlich der sie umgebenden gestalteten Natur.
Die Historische Geographie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die Kulturlandschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung erfasst, beschreibt und bewertet. Dabei geht sie immer von der bis heute bestehenden Raumwirksamkeit der früheren Nutzungs- und Siedlungsgeschichte aus. Das heißt, hier stehen nicht unbedingt die auffälligen Merkmale einer kulturhistorischen Epoche wie zum Beispiel Bauwerke im Vordergrund. Merkmale einer Kulturlandschaft sind Grenzbäume, eine Hecke oder Parkanlagen, alte Verkehrsachsen oder das Verhältnis von Waldgebiet und Offenland. Die Art und Weise eben, wie Menschen ihren Siedlungsraum in unterschiedlichen Epochen gestaltet haben.
Dies im Bewusstsein der heute Lebenden als Teil ihrer Identität und Verbundenheit mit ihrer Region wach zu halten, ist nicht nur ein Anliegen von Denkmalpflegern und Naturschützern. Res-pekt vor den historisch gewachsenen Landschaften bestimmt auch immer stärker die Raumordnungsplanungen für die Zukunft. Zumindest haben Bedenken und Anregungen zum Erhalt der Landschaftsstruktur in heutigen Planungsvorgängen durchaus an Gewicht gewonnen.
Ein Beispiel ist die Planfeststellung der Autobahn A 26 von Stade nach Hamburg. Hierzu hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht am 12. Dezember 2005 in einem Urteil den ganzheitlichen Aspekt Kulturlandschaft ausdrücklich mitberücksichtigt: "Im Alten Land ist aber kulturhistorisch (wenn auch sehr wohl touristisch) nicht eine Sichtbeziehung oder ein Anblick von Bedeutung, sondern die Verbindung zwischen den giebelständigen Höfen, des sich anschließenden Hufen (= Streifenparzellen) sowie dem wasserbaulichen Gefüge von Gräben, Wettern, Vorflutern, Schöpfwerken und Deichen, die historische Polder haben entstehen lassen."
Für die Klosterlandschaft Heisterbacher Tal im Naturpark Siebengebirge hat der Rheinische Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz ein historisch-geographisches Gutachten in Auftrag gegeben, das den Entscheidern in Planungsbehörden, Land- und Forstwirtschaft Hilfestellung geben soll. 1192 hatten Zisterziensermönche in dem Tal bei Königswinter begonnen, eine Abtei aufzubauen, deren 1237 fertig gestellte Kirche eine der größten im Rheinland war. Ihre Ruine zieht heute zahlreiche Ausflügler aus dem Bonner Umland an.
In Zukunft sollen sie auf vier kulturhistorischen Wanderrouten mehr über die Aktivitäten der Mönche in der Abtei Heisterbach erfahren können. Außerdem sollen bestimmte Landschaftsteile renaturiert und die ehemaligen Fischteiche der Klosteranlage rekultiviert werden. Die Historische Geographie schaffte dafür mit Analysen und Kartierungen die Voraussetzungen. Dabei stand die Frage im Vordergrund, ob das Objekt - in diesem Fall die Klosteranlage - Träger deutlicher Botschaften ist, die es in den Rang einer Urkunde erheben; einer begehbaren Urkunde sozusagen, die Zeugnis ablegt über die Vergangenheit.
Damit wird Denkmalpflege konsequent räumlich - die Landschaft erfährt die Bewertung als kulturelles Erbe. Darin existieren Denkmäler neben weiteren Zeugnissen der Vergangenheit. Entscheidend ist die Zusammenführung in ein Gesamtkonzept mit dem Dialog zwischen Schutzinteressierten und den Eigentümern sowie Nutzern. Denn die heutige Kulturlandschaft als "Momentaufnahme" ist das Ergebnis einer Nutzungsgeschichte. Logischerweise ist deshalb die beste Form der zukünftigen Erhaltung des Nebeneinanders von Geschichte und Gegenwart eine das kulturelle Erbe bewahrende zukünftige Weiternutzung. Diese liegt für die Klosterlandschaft Heisterbacher Tal als Projekt innerhalb der "Regionale 2010" des Landes Nordrhein-Westfalen vor. Die Regionalen verstehen sich u. a. als integrative Motoren einer werterhaltenden regionalen Entwicklung. Entscheidend ist hierfür die Förderung der Akzeptanz und Wertschätzung des Überlieferten als Kapital für die Zukunft im Sinne von Standortfaktoren und regionaler Identität.
Es geht also darum, eine Kulturlandschaft nicht deshalb zu bewahren, weil sie schön ist oder um des kunsthistorischen Interesses einiger Experten willen, sondern wegen ihrer Einzigartigkeit. Sie birgt in sich die Erklärung, warum sich ein Ort, eine Stadt oder Region so und nicht anders entwickelt hat. "Eine echte Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern sie mit neuen Augen zu sehen." Mit diesem Gedanken von Marcel Proust umschrieb der Landrat des Kreises Mayen-Kob-lenz Albert Berg-Winters 2001 den Kerngedanken des neuen Vulkanparks Osteifel. Seit mehr als 2000 Jahren wurde die ursprüngliche Landschaft der Osteifel und des mittelrheinischen Beckens durch die Ausbeutung der vulkanischen Rohstoffvorkommen Basalt, Tuff, Trass und Bims verändert. Dieser Raum verwandelte sich seit dem späten 19. Jahrhundert in eine Industrieregion. Firmen der Steinindustrie und Gruben reihten sich aneinander und schufen damit nicht gerade eine idyllische Ferienregion.
Dennoch drängen sich hier mittlerweile die Besucher. Der Vulkanpark Osteifel will anhand von derzeit 23 Projekten die interessante Entstehungsgeschichte der Region durch vulkanische Aktivitäten seit dem Tertiär bis heute vorführen und die kulturlandschaftliche Geschichte der Ausbeutung und Nutzung der vulkanischen Rohstoffvorkommen durch Menschenhand von der Antike bis zur Neuzeit präsentieren.
Die Römer erkannten den Wert von Basalt, Tuff und Bims bereits vor rund 2.000 Jahren und fingen an, Rohstoffe systematisch zu gewinnen. Aus dem Basalt stellten sie Getreidemühlen her, den Tuff nutzten sie als Baumaterial. Im Laufe der Jahrhunderte nahm die Steingewinnung und -verarbeitung in der Osteifel einen immer höheren Stellenwert ein. Bis im 19. und 20. Jahrhundert die Steinindus-trie zum bedeutendsten Wirtschaftsfaktor der Region wurde. Mit Konsequenzen allerdings, die Landrat Berg-Winters so beschreibt: "Die Zerstörung der Landschaft war soweit fortgeschritten, dass es scheinbar nur noch eine Möglichkeit gab: die Renaturierung der Landschaft. Wissenschaftler belehrten uns eines Besseren. Sie öffneten uns die Augen für die Schätze der Landschaft, die durch die Ausbeute der Rohstoffe zu Tage getreten waren."
Diese "neu entdeckten Schätze" zu sichern und aufzubereiten, zu öffnen und als Erbe für die Nachwelt zu erhalten, ist die Vision des Vulkanparks. Im "Infozentrum Rauschermühle" in Plaidt-Saffig werden die Besucher mit der Entstehungsgeschichte der Osteifel und des mittelrheinischen Beckens konfrontiert. Exponate und Lebensbilder stellen die historische Steingewinnung, die daraus entstandenen Produkte und den Steinhandel in weite Teile der damaligen Welt dar. Infotafeln auf Basaltsäulen liefern detaillierte Erklärungen und Beschreibungen zum Vulkanismus und zur menschlichen Ausbeutung und Nutzung der Vulkangesteine. Vom Infozentrum werden vier Vulkanpark-Routen mit vielen Informationen angeboten, die man mit dem Auto, Rad oder zu Fuß erfahren und erleben kann.
Ein Ziel ist das Mayener Grubenfeld mit Relikten mittelalterlicher Glockenschächte und neuzeitlicher Tagebaue. In der Adorf-Halle bietet ein Zentrum Hintergrundinformationen zu dem Abbaufeld. Dieser Name deutet auf einen bekannten Schauspieler hin: Mario Adorf, dessen Jugenderinnerungen an Mayen in die Zeit der prägnanten Geräuschkulisse der Steinbrüche zurückreichen. Die Einbeziehung der Menschen, die Kulturlandschaft mit ihrer Hände Arbeit hervorgebracht haben, ist ein wichtiges Anliegen. Diese Betrachtungsebene des Ursächlichen neben der Architekturgeschichte führt zur Alltagsgeschichte des Menschen und damit schließ sich der Kreis einer umfassenden historischen Betrachtung.
Kulturlandschaft ist mehr als die Summe inventarisierbarer Elemente und Denkmäler. Sie ist ein System mit Strukturen, Erinnerungen, Legenden, Inszenierungen, Assoziationen und sie ist Gegenwart. Auch wir erzeugen momentan, möglicherweise noch unbemerkt, das kulturelle Erbe für die Zukunft. Dessen Bestimmung ist allerdings nicht nur Experten vorbehalten, sondern den Bürgern und Bürgerinnen. Die fachliche Sicht ist eine Entscheidungshilfe im Diskurs und dieser ist notwendig, damit wir uns vergewissern, wie viel uns Denkmäler und Kulturlandschaften eigentlich Wert sind.
Der Autor ist Geograf in Köln und Gutachter im Bereich der historischen Stadt- und Landschaftsforschung.