Millionen Deutsche haben eine Patientenverfügung verfasst. Sie wollen ihr Lebensende nicht an Schläuchen oder Apparaten verbringen, sondern wünschen sich, selbst über den Zeitpunkt ihres Todes zu entscheiden. Doch wie weit geht das Selbstbestimmungsrecht von Kranken, die sich selbst nicht mehr äußern können? Der Bundestag steht vor einer schwierigen Entscheidung.
Eluana Englaro starb nach 17 Jahren im Wachkoma. Ihr Vater hatte immer wieder versucht, ihr Leiden zu beenden. Die Ärzte der 38-jährigen Italienerin hatten nicht mehr an eine Heilung geglaubt. Doch die juristischen Auseinandersetzungen, in denen Richter darüber befinden mussten, ob sie leben oder sterben sollte, hatten sich über Jahre hingezogen. Am Ende aber machten sie den Weg frei. Im Februar wurde die Magensonde, die Eluana Englaro nach einem schweren Autounfall so lange am Leben hielt, schließlich entfernt. Vier Tage später verstarb sie friedlich.
La Quiete, die Ruhe, hieß Eluana Englaro Klinik in der norditalienischen Stadt Udine. Von Ruhe aber konnte diesen Winter dort keine Rede sein. In Italien tobte ein Kulturkampf: Vor der Klinik hatten sich Kamerateams aus aller Welt aufgestellt. Die italienische Regierung versuchte mit einem Eilgesetz, den Lauf der Dinge zu stoppen. Papst Benedikt XVI. warnte davor, das Leben der Patientin anzutasten. Überall fanden sich Bürger zu Demonstrationen und Mahnwachen zusammen: Die einen warben um Verständnis für den Wunsch der Familie nach einem „würdigen Tod” und für das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende. Die anderen sahen das Recht auf Leben verletzt und bezichtigten Richter und Ärzte der Sterbehilfe.
Auch in Deutschland sorgte das Schicksal von Eluana Englaro für Schlagzeilen. Denn ähnliche Fälle gibt es auch bei uns. Da ist zum Beispiel der Fall von Timothy S. Der britische Hobbysportler wurde 2003 nach einem Fahrradunfall mit einem Schädel-Hirn-Trauma und Blutungen im Gehirn in die neurologische Klinik Magdeburg eingeliefert. Nachdem die Ärzte auf Wunsch der Familie die Abschaltung des Beatmungsgerätes des todkranken Patienten toleriert hatten, mussten sie sich vor Gericht wegen Totschlags verantworten. Zwar wurden die Ärzte am Ende freigesprochen. Doch der Fall zeigt, wie schwierig die Rechtslage und wie groß die Unsicherheit bei vielen Ärzten, Patienten und Angehörigen ist.
Der Deutsche Bundestag will diese rechtlichen Grauzonen zwischen Leben und Tod, zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und der Schutzpflicht des Staates möglichst schließen. Noch vor der Sommerpause könnte das Parlament ein Gesetz verabschieden, das den Patienten am Lebensende mehr rechtliche Sicherheit gibt. Es soll regeln, wie und in welchem Umfang die Ärzte den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen ihrer Patienten und deren Angehörigen beachten müssen. Es soll sicherstellen, dass Patienten nicht gegen ihren mutmaßlichen Willen am Leben gehalten werden.
Dabei stellen sich ethisch umstrittene Fragen: Wie kann ein Patient angesichts des rasanten medizinischen Fortschritts in Würde sterben? Kann er die Umstände seines Todes festlegen und bestimmen, wann er auf lebenserhaltende Behandlungen verzichten will? Wann haben Ärzte die Anweisung zu achten? Bei welchen Krankheiten stellt sich die Frage überhaupt?
Die Fälle von Eluana Englaro und Timothy S. waren auch deshalb so schwierig, weil beide keine Patientenverfügung hinterlassen hatten, in der sie bestimmt hätten, wie sie einmal behandelt werden möchten, falls sie sich selbst nicht mehr äußern können. Der Vater von Eluana Englaro hatte vor Gericht zwar berichtet, dass seine Tochter einmal einen im Koma liegenden Freund besucht und danach gesagt haben soll, so wolle sie selbst nicht am Leben erhalten werden. Einen ausdrücklich niedergeschriebenen Willen gab es aber nicht. Ähnlich war es bei Timothy S. Die Eltern hatten zwar berichtet, dass ihr Sohn den Wunsch geäußert habe, zu sterben. Doch davon wusste offenbar kein Außenstehender. Und so stellte sich in beiden Fällen die Frage: Reicht der vermutete Wille aus, um den Patienten sterben zu lassen?
In Deutschland haben Schätzungen zufolge zwischen acht und zehn Millionen Menschen eine Patientenverfügung verfasst. Nach Schätzungen der Hospizstiftung werden in Deutschland jedes Jahr zwischen 400.000 und 600.000 Entscheidungen am Sterbebett über Leben und Tod notwendig. Das Problem dabei ist, dass es keine gesetzliche Regelung gibt. Und so haben die Gerichte in diversen, sich manchmal widersprechenden Urteilen festgelegt, wie mit dem mündlichen oder schriftlichen Willen von Sterbenden in Deutschland umzugehen ist. Zuletzt tat dies der Bundesgerichtshof in den Jahren 2003 und 2005.
Die Bundesärztekammer hat diese Urteile mit eigenen Richtlinien ergänzt. Danach sind Patientenverfügungen generell verbindlich. „Niemand darf gegen seinen Willen behandelt werden”, sagt der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe. Behandelt ein Arzt seinen Patienten ohne dessen Zustimmung weiter, dann gilt dies als Körperverletzung. Stellt ein Arzt lebenserhaltende Maßnahmen auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten ab, gilt das als passive Sterbehilfe. Die ist in Deutschland straffrei.
Doch häufig stellt sich das Problem, dass bei Patienten, die sich wegen einer schweren Krankheit wie Alzheimer selbst nicht mehr äußern können, nur schwer nachvollziehbar ist, ob ein in der Vergangenheit in einer Patientenverfügung oder mündlich geäußerter Wille auch noch dem heutigen Willen entspricht. Diese Frage stellte sich bei Eluana Englaro und auch bei Timothy S. In dieser Grauzone müssen Ärzte und Angehörige nach heutiger Rechtslage dann versuchen zu ermitteln, was der Patient in dieser Situation tatsächlich gewollt hätte.
Viele Ärzte gehen im Zweifel auf Nummer sicher und setzen auf lebenserhaltende Maßnahmen. „Die wahren Dramen spielen sich in den Pflegeheimen ab”, meint der Münchner Neurologe und Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. „Eine halbe Million Menschen werden dort dauerhaft künstlich ernährt, ein Großteil davon ohne medizinische Indikation oder gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen.” Jedes Jahr wird in Deutschland etwa 140.000 Menschen eine neue Magensonde gelegt – viele davon, ohne dass der Patient sein Einverständnis erklären kann.
Der Deutsche Juristentag hatte schon vor drei Jahren gefordert, die Hängepartie zu beenden, und ein Gesetz angemahnt. Dieser Forderung hatte sich der Nationale Ethikrat angeschlossen. Auch im Bundestag wird seit Jahren darüber diskutiert. In der letzten Legislaturperiode kam mangels Konsens kein Gesetz zustande. Die damalige und heutige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) hatte zwar einen Entwurf erarbeitet, der dem Patienten eine weitgehende Autonomie am Lebensende sichern sollte. Doch nach Protesten der Abgeordneten im Bundestag, die ohne Fraktionszwang in dieser schwierigen Frage entscheiden wollten, zog sie ihren Vorschlag wieder zurück.
Mittlerweile haben sich im Parlament drei Gruppen von Abgeordneten mit überfraktionellen Entwürfen zusammen gefunden. Über sie soll nach Möglichkeit noch vor der Sommerpause entschieden werden. Allen Entwürfen gemeinsam ist, dass der Wille einer Person, die sich selbst nicht mehr äußern kann, ermittelt werden muss und dann gilt. Unterschiede gibt es allerdings bei der Reichweite der Patientenverfügungen, also bei der Frage, für welche Fälle sie überhaupt gelten sollen. Auch bei der Frage der Mitwirkung von Ärzten, Gerichten und Notaren werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, ebenso bei den Formvorschriften für einen niedergelegten oder mutmaßlichen Willen der Patienten.
Angestoßen wurde die Entscheidungsfindung im Parlament vom SPD Rechtspolitiker Joachim Stünker. Er hat schon früh einen Entwurf erarbeitet, der die Selbstbestimmung der Patienten in den Mittelpunkt stellt. „Es gibt ein Recht auf Leben, aber keine Pflicht”, meint Stünker, der für diese Haltung bislang über 200 Kollegen aus fast allen Fraktionen gewonnen hat. Darunter auch Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD).
Der ehemalige Familienrichter Stünker will, dass schriftliche Patientenverfügungen „unabhängig vom Stadium und der Art der Erkrankung” befolgt werden, sofern sich Arzt und Betreuer einig sind, dass der Wille des Patienten auch auf die konkrete Entscheidungssituation übertragbar ist. Das betrifft auch Krankheiten, die nicht notwendigerweise unumkehrbar zum Tod führen, wie das Wachkoma. Die Verfügung sollte möglichst schriftlich vorliegen, aber auch mündliche Verfügungen sind denkbar, wenn Arzt und Betreuer in der Einschätzung des Patientenwillens übereinstimmen. Gerichte müssen nur im Konfliktfall eingeschaltet werden.
Im Falle der italienischen Wachkomapatientin Eluana Englaro hätte eine Rechtslage, wie sie sich Stünker für Deutschland wünscht, ein frühzeitiges Entfernen der Magensonde ermöglicht. Auch ohne niedergeschriebene Patientenverfügung und ohne jahrelange Auseinandersetzungen vor den Gerichten. Jedenfalls dann, wenn sich ihr behandelnder Arzt und der Betreuer – in diesem Fall der Vater – einig gewesen wären. Im Falle von Konflikten, auch innerhalb der Familie, wäre allerdings der Gang vor den Richter unvermeidlich.
Auch der konkurrierende Entwurf der Unionspolitiker Hans Georg Faust (CDU) und Wolfgang Zöller (CSU) räumt der Patientenverfügung eine hohe Verbindlichkeit ein. Die Abgeordneten wehren sich aber gegen eine Überregulierung durch den Staat am Lebensende. „Die Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens ist ein Prozess, kein Suchen in verschiedenen Schubladen eines Gesetzesschrankes”, sagt Faust. Der Abgeordnete ist selbst Intensivmediziner und kennt die Probleme aus eigenem Erleben. Faust und Zöller konnten bislang etwa 60 Abgeordnete gewinnen – darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Als einzige Gruppe halten Faust und Zöller im Einzelfall auch eine nur mündlich geäußerte Verfügung für gültig, und zwar für jede Art von Krankheit in jedem Stadium, wenn der Patient sich nicht mehr selbst artikulieren kann. Anders als der SPD-Politiker Stünker lehnen sie aber die absolute Verbindlichkeit aller Verfügungen ab und räumen stattdessen Angehörigen und Ärzten im Entscheidungsprozess eine Schlüsselrolle ein. Sie müssen im Einzelfall prüfen, ob die Patientenverfügung vor dem Hintergrund des medizinischen Fortschritts und der konkreten Entscheidungssituation anwendbar ist und dem Willen des Patienten entspricht. Können sie sich nicht einigen, entscheidet ein Vormundschaftsgericht.
Der Entwurf entspricht am ehesten der gegenwärtigen Rechtslage in Deutschland. Im Falle von Eluana Englaro oder Timothy S. hinge die Frage, ob die lebenserhaltenden Maßnahmen abgeschaltet werden oder nicht, nach dem Willen von Faust und Zöller also maßgeblich vom Urteil der Ärzte ab. Da in beiden Fällen die Ärzte den Abbruch der Versorgung befürwortet hatten und auch die Verwandten dafür waren, wären den Beteiligten die langen gerichtlichen Auseinandersetzungen wohl erspart geblieben. Die Tatsache, dass in beiden Fällen keine schriftliche Verfügung vorlag, wäre kein Problem gewesen.
Restriktiver ist der Entwurf, für den unter anderem der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) stehen. Sie wollen sicherstellen, dass der Auftrag des Staates gewahrt bleibt, das Leben zu schützen. „Ich bin voll und ganz dafür, den Willen des Patienten umzusetzen”, meint Göring-Eckardt. „Aber dafür reicht der Blick in eine Patientenverfügung nicht aus. Die hat man in einem Zustand geschrieben, in dem man nur erahnen konnte, wie sich der Zustand vielleicht anfühlen wird, da sie in Kraft treten soll.” Göring-Eckardt, die Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche ist, kommt mit ihren Vorstellungen den christlichen Kirchen nahe. Ihr Entwurf wird bislang von rund 110 Abgeordneten unterstützt.
Göring-Eckardt und ihre Kollegen unterscheiden nach Krankheitsbildern: Für Festlegungen bei Krankheiten mit „unumkehrbar tödlichem Verlauf”, wie etwa der Muskelkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), reicht eine einfache schriftliche Verfügung aus. Das gilt auch für Fälle des unabsehbar langen Wachkomas. Für den Fall, dass noch Heilungschancen bestehen, verlangen die Abgeordneten dagegen eine umfassende Beratung des Arztes und eine Beglaubigung der Verfügung durch den Notar. Außerdem muss die Verfügung alle fünf Jahre erneuert werden. Dahinter steht die Überlegung, dass ein Patient, der eine Behandlung trotz Therapiemöglichkeit ablehnen will, nur dann informiert entscheiden kann, wenn er über das entsprechende Krankheitsbild aufgeklärt wurde. Gültig sind nach Vorstellung dieser Gruppe nur schriftliche Verfügungen, die eigenhändig unterschrieben wurden.
Anders als bei den anderen beiden Entwürfen hätte dies im Fall von Eluana Englaro dazu geführt, dass die Behandlung nicht abgebrochen worden wäre. Denn bei der Italienerin lag weder ein ausdrücklicher schriftlicher Wille vor, noch hatte ihr Wachkoma einen unabsehbar tödlichen Verlauf. Auch bei Timothy S. gab es keine schriftliche Erklärung. Doch auch eine schriftliche Erklärung löst oftmals nicht alle Probleme. Viele Verfügungen sind in der Praxis unbrauchbar. Sie sind zu allgemein gehalten, widersprüchlich oder gehen von falschen Annahmen über Krankheitsbilder und -verläufe aus. Manche Formulare aus dem Internet sind nur zum Ankreuzen oder schlicht veraltet. Das kann zur Folge haben, dass am Ende Anwälte und Richter über die Frage von Leben und Tod entscheiden müssen. Es gibt also Regelungsbedarf.
Und doch ist nicht sicher, ob es dazu kommt. Zu unterschiedlich sind die Meinungen im Parlament, zu unklar die Mehrheitsverhältnisse. Noch suchen die Abgeordneten nach einem mehrheitsfähigen Konsens. Zudem sind nicht alle Beteiligten davon überzeugt, dass neue Gesetze weiterhelfen. „Sterben ist nicht normierbar”, sagt Frank Ulrich Montgomery von der Bundesärztekammer. Wie viele Mediziner glaubt auch er, dass die gegenwärtige Rechtslage ausreicht, den Ärzten genügend Spielraum für verantwortliche Entscheidungen gibt. Stattdessen wollen sie die Beratung, die Hospizarbeit, die Schmerztherapie und die Sterbebegleitung verbessern. „Die Abgeordneten haben sich verrannt. Ich kann ihnen nur empfehlen, alle Entwürfe einstampfen zu lassen”, sagt Montgomery. Auch die Deutsche Hospizstiftung rät, die Betreuung Schwerkranker auszubauen, statt eine Debatte über ein „leichteres” Sterben zu führen. Die Haltung der Ärztekammer ist allerdings umstritten: Bei der Sachverständigenanhörung im Bundestag Anfang März hat eine Mehrheit der geladenen Experten, darunter Mediziner, Richter, Juristen und Ethiker, ausdrücklich für eine gesetzliche Regelung plädiert.
Wie auch immer die Debatte am Ende ausgeht – eines dürfte unstrittig sein: Das Sterben gehört zum menschlichen Leben dazu. Auch wenn es vielen Patienten, Ärzten und Betreuern verständlicherweise schwerfällt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Das macht die Entscheidung darüber so kontrovers und komplex. Nicht nur im Falle von Eluana Englaro oder Timothy S., sondern auch im Parlament. Und im Alltag von uns allen.
Text: Jörg Michel
Erschienen am 5. Mai 2009