Das klingt zu schön, um wahr zu sein: ein Grundeinkommen vom Staat für jeden Bürger ohne Bedingungen und ohne Verpflichtungen. Aber wie realistisch ist dieser Vorschlag überhaupt, und wofür steht er? Im Streitpunkt von BLICKPUNKT BUNDESTAG diskutieren Susanne Wiest, Initiatorin einer Petition zum bedingungslosen Grundeinkommen, und der Sozialpolitiker Rolf Stöckel, Vorstandsmitglied der SPD-Bundestagsfraktion.
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ist an einiges gewöhnt. Aber einen solchen Ansturm wie bei der Online-Petition der Greifswalder Kindergärtnerin Susanne Wiest für ein „bedingungsloses Grundeinkommen für alle Deutschen” haben selbst altgediente Mitarbeiter des Ausschusses selten erlebt: Innerhalb von nur drei Monaten überschritt die Petition die Schallgrenze von 50.000 Mitzeichnern. Zeitweise brach unter dem Ansturm der Befürworter der Server zusammen.
Die Petition, die sich gegenwärtig in der parlamentarischen Prüfung befindet, hat offenbar den Nerv des Zeitgeistes getroffen. Das verwundert nicht, denn was Susanne Wiest fordert, erinnert ein wenig ans Schlaraffenland: Zwar sollen den Bürgern keine gebratenen Hühner in die Münder fliegen, dafür aber jeder Bürger, ob jung oder alt, ob bedürftig oder nicht, vom Staat ein garantiertes und an keine Bedingungen geknüpftes Grundeinkommen erhalten. Erwachsene immerhin 1.500 Euro im Monat, Kinder 1.000 Euro monatlich. Wer möchte das nicht?
Natürlich weiß auch die Petentin Susanne Wiest, dass der Staat dies nicht aus dem Stand und ohne Gegenfinanzierungen bezahlen kann; schon gar nicht in Zeiten einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Deshalb schlägt sie in ihrer Petition vor, die Kosten von geschätzten 600 bis 800 Milliarden Euro jährlich durch eine kräftige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf alle Waren und Dienstleistungen zu erwirtschaften. Außerdem sollen bisherige Sozialleistungen wie Kindergeld, Arbeitslosengeld und Rente schrittweise wegfallen.
Der Verdacht, Susanne Wiest sei mit ihrem radikalen Konzept eines staatlichen Grundeinkommens weltfremd, ist schnell ausgeräumt. Erstens steht sie als Mutter von zwei Kindern mitten im Leben, und zweitens hat schon vor rund 500 Jahren der Humanist Thomas Morus in seiner „Utopia” die Idee einer staatlichen Existenzsicherung vertreten – um Kriminalität zu vermeiden. Auch heutige Politiker und Wirtschaftsgrößen denken laut über neue Formen der Daseinssicherung nach. So plädiert etwa Götz Werner, der Gründer der Drogeriekette „dm”, schon seit Langem für ein Grundeinkommen ähnlichen Kalibers, und für die CDU macht sich Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus für das „Solidarische Bürgergeld” stark, das ein Grundeinkommen, eine Reform der Einkommensteuer und die Zusammenlegung von Transferleistungen vor sieht. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke werben eher für eine Grundsicherung, die an Bedürftigkeit gekoppelt ist. Die FDP fordert das „liberale Bürgergeld”, das eine Arbeitsverpflichtung enthält. Die SPD kann sich bislang nicht mit einem Grundeinkommen anfreunden. Sie setzt auf Mindestlöhne und eine anständige Bezahlung von Arbeit.
Mit den in die politische Diskussion drängenden Konzepten für ein Grundeinkommen verbinden sich nicht nur Hoffnungen auf eine gerechtere Gestaltung der Sozialsicherungssysteme und auf Alternativen zu den nach wie vor von vielen Menschen als ungerecht empfundenen Hartz-Reformen. Teilweise wird die Idee eines Grundeinkommens auch mit einer Revolutionierung der Arbeitskultur weg vom Zwang hin zu Freiheit und Selbstbestimmung verbunden sowie mit einer bewusst gewünschten Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen wirft insofern nicht nur Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf, sondern rührt auch ans Grundsätzliche: Was ist unser Bild vom mündigen Menschen? Was hält unsere Gesellschaft im Kern zusammen? Wie sieht unsere Wertordnung aus?
Über diese Fragen diskutieren im Streitgespräch von BLICKPUNKT BUNDESTAG Susanne Wiest und der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Stöckel. Susanne Wiest, die Initiatorin der Petition zum bedingungslosen Grundeinkommen, ist Mutter von zwei Kindern und arbeitet als Tagesmutter in Greifswald. Leistungen nach Hartz IV lehnt sie ab, weil sie sich in ihrer Würde verletzt sähe. Mit einem Grundeinkommen würde sie sich wieder als Teilhaberin an unserer Gesellschaft fühlen. Auf der anderen Seite tritt der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Stöckel auf. Er ist Vorstandsmitglied der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher der Arbeitsgruppe „Verteilungsgerechtigkeit”.
Blickpunkt Bundestag: Frau Wiest – kennen Sie das Märchen vom Schlaraffenland? Denn was Sie vorschlagen, klingt doch paradiesisch.
Susanne Wiest: Mein Vorschlag läuft keineswegs auf ein Schlaraffenland hinaus. Das ist nicht meine Absicht. Mein grundlegender Aspekt ist die Menschenwürde und nicht, Nichtstun zu belohnen. Die Realität ist doch, dass die Arbeit immer weniger wird und die Leute zu immer geringeren Löhnen arbeiten müssen. Und das ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Deshalb plädiere ich dafür, das bedingungslose Grundeinkommen einzuführen.
Blickpunkt: Nach Ihrem Modell würden Sie als Mutter von zwei Kindern dabei nicht schlecht fahren und monatlich 3.500 Euro bekommen. Ist das nicht traumhaft?
Wiest: Ja, das würde mir gut gefallen. Weil ich, wie viele andere Leute auch, heute viel zu wenig Geld verdiene. Ich bin Tagesmutter und verdiene rund 800 Euro im Monat. Ich möchte weg vom Mangel, möchte in Würde leben. Und ich glaube, dass dies möglich ist, wenn wir Arbeit und Geld anders verteilen.
Blickpunkt: Herr Stöckel, gönnen Sie Frau Wiest das Geld nicht oder warum sind Sie und Ihre Partei gegen ein Grundeinkommen?
Rolf Stöckel: Natürlich gönne ich Frau Wiest das Geld. Aber die Frage ist doch: Wie kann der Sozialstaat, der wir ja sind, ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten? Kann er das für alle Menschen tun oder nur für jene, die aus eigener Kraft nicht zurechtkommen? Meine Partei und ich sind für eine bedarfsabhängige Grundsicherung. Dabei muss es einen Abstand zwischen Grundsicherung und Arbeitseinkommen geben. Das, was Frau Wiest vorschlägt, ist ein alter Menschheitstraum, der auf den ersten Blick faszinierend erscheint, aber unter den Gegebenheiten einer sozialen Markt wirtschaft eine Utopie bleiben muss. Im Übrigen: Mir wäre es in einem Schlaraffenland zu langweilig. Da gäbe es keine Herausforderungen.
Blickpunkt: Widerspricht ein Grundeinkommen nicht dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit? Muss nicht jeder, der von der Gesellschaft etwas erhält, dafür auch konkret etwas leisten?
Wiest: Auch für mich ist ein Mensch ein tätiges Wesen, das heißt, dass ich arbeiten und mich engagieren will. Heute wird Arbeit oft reduziert auf Erwerbsarbeit, dabei gibt es so viel andere gesellschaftliche Arbeit – etwa das Erziehen von Kindern –, was genauso wichtig ist, aber nicht bezahlt wird. Das würde sich mit einem Grundeinkommen endlich ändern.
Stöckel: Ich glaube nicht, dass uns bei allem technischen Fortschritt die Arbeit wirklich ausgeht. Wir suchen bereits wieder Facharbeiter und technischen Nachwuchs in Forschung, Bildung, Gesundheit und Pflege. Daneben müssen wir sicherlich auch dafür sorgen, dass ehrenamtliche und gesellschaftlich wichtige Arbeit bessergestellt wird. Aber richtig bleibt doch auch, dass die meisten Menschen sich über ihre Arbeit und einen leistungsgerechten Lohn definieren. Daraus ziehen sie ihr Selbstwertgefühl und ihre Anerkennung. Und das ist ja auch nachvollziehbar.
Wiest: Wenn man arbeitslos ist, wie viele Menschen es in dem Dorf sind, aus dem ich komme, gewinnt man daraus wenig Selbstwertgefühl. Dabei gibt es auch in unserem Dorf Arbeit – etwa die vielen alten Menschen zum Arzt oder zum Einkaufen zu fahren. Nur: Umsonst macht das niemand. Bei einem Grundeinkommen wäre das kein Problem. Da würden viele anpacken. Deshalb sage ich: Grundeinkommen ermöglicht Tätigkeit, und zwar unkompliziert und unbürokratisch. Wir könnten viele Arbeits- und Sozialämter abschaffen.
Blickpunkt: Knackpunkt Ihres Vorschlages ist die Finanzierung. Wie soll ein bedarfsunabhängiges Grundeinkommen für jeden bezahlt werden?
Wiest: Ich glaube, das ist sehr wohl zu finanzieren. Erstens, weil sich die Anstrengung dafür lohnt, und zweitens, weil viele Menschen ja heute bereits über dem Grundeinkommen liegen. Bei denen ändert sich nicht die Höhe, sondern nur die Zusammensetzung ihres Gehaltes. Draufzahlen müsste der Staat, also wir alle, nur bei den prekär Beschäftigten, bei Hartz-IV-Betroffenen und bei denen, die im Niedriglohnbereich arbeiten. Und das sollte zu finanzieren sein.
Blickpunkt: Etwas konkreter bitte!
Wiest: Ich bin keine Finanzexpertin, und noch ist mein Vorschlag ein kleines Pflänzchen, das erst noch wachsen muss. Aber wenn wir die meisten heutigen Steuern, die Arbeit und Initiative belasten, abschaffen und dafür eine umfangreiche Konsumsteuer auf Waren und Dienstleistungen einführen würden, die bis zu 40 Prozent hoch sein könnte, wäre das meiner Meinung nach zu schaffen. Damit gibt nicht mehr der Starke dem Schwachen, sondern wir zahlen uns alle gegenseitig das Grundeinkommen.
Stöckel: Da bin ich anderer Ansicht. Da machen Sie sich Illusionen. Die Kosten sind doch immens, selbst wenn Sie von ihren 1.500 Euro Monatsgrundeinkommen wieder Abstriche machten. Annähernd 800 Milliarden Euro müsste der Staat im Jahr aufbringen – unmöglich! Utopisch! Auch die eher vagen Gegenfinanzierungsvorschläge von Ihnen, Frau Wiest, überzeugen nicht. Die immensen sachlichen Leistungen des Sozialstaates, etwa für Pflegeheime, Behindertenhilfen und Rehabilitation, werden ignoriert. Hinzu kommen die Illusionen über neue Steuereinnahmen bei den Besserverdienenden und Superreichen. Das alles ist weltfremd und überzogen.
Blickpunkt: Gibt es ein universelles Menschenrecht auf Anspruch auf eine bedingungslose monetäre Grundversorgung durch das politische Gemeinwesen?
Wiest: Ich finde ja. Es ist ein wunderbarer Weg für eine vernünftige gesellschaftliche Entwicklung. Dass wir darüber heute realistisch nachdenken können, liegt übrigens an den Leistungen der Vergangenheit. Ich finde, man darf keine Menschen ausgrenzen. Jeder gehört zum Gemeinwesen dazu. Das bedeutet für mich Würde.
Stöckel: Ich fürchte, ein bedarfsunabhängiges Grundeinkommen würde eher wie eine Stilllegungsprämie wirken. Denn die eigentlichen Gründe für die Arbeitslosigkeit würden ja nicht beseitigt. Insofern gibt der Staat doch wieder nur Transferleistungen wie jetzt bei Hartz IV auch. Deshalb finde ich ein bedarfsabhängiges Grundsicherungssystem sinnvoller. Denn Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. Wer unverschuldet arbeitslos wird, hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das der Staat zahlt. Und wer erwerbsfähig ist, soll seine Arbeitskraft einbringen, selbst wenn sein Einkommen nur wenig über der Bedarfsgrenze liegt. Das liegt auch im Interesse all derjenigen Menschen, die mit ihren Steuern ja den Sozialstaat erst möglich machen.
Blickpunkt: Wo, Frau Wiest, liegt bei Ihrem Modell der Anreiz zum Arbeiten?
Wiest: In der Attraktivität des Angebots. Nicht allein in der Höhe der Entlohnung. Denn da bin ich ja abgesichert durch das Grundeinkommen. Aber wenn mir Arbeit gefällt und sinnvoll erscheint – natürlich würde ich dann arbeiten. Ich bin auch sicher, dass einem die Arbeit inhaltlich sehr viel erfüllter erscheint, wenn man sie freiwillig und nicht aus nackter Not übernimmt.
Blickpunkt: Heißt die Formel des Grundeinkommens nicht doch: Wer faul und bequem ist, wird belohnt?
Wiest: Man darf auch mal faul sein. Dagegen kann man ohnehin nichts machen, auch heute nicht.
Stöckel: Natürlich hat die Freiwilligkeit von Arbeit durchaus etwas Attraktives an sich. Wer vom Zwang zur Lohnarbeit befreit ist, der wird erfüllter seiner Arbeit nachgehen als andere und möglicherweise auch noch zusätzlich Ehrenämter ausüben. Marx hat das mal so beschrieben: Morgens Fischer, nachmittags Künstler, abends Philosoph. Die Debatte über ein anderes Gesellschaftsmodell von Arbeit halte ich deshalb grundsätzlich für richtig. Aber man muss auch sehen, dass beim Grundeinkommen die solidarischen Elemente der Umverteilung, die unsere Gesellschaft prägen, weggenommen werden. Risiken würden individualisiert, und Sozialabbau würde betrieben. Nehmen Sie als Beispiel den Generationenvertrag bei der Rente. Der würde auf Dauer aufgelöst. Das brächte tiefe neue Verwerfungen in unsere Gesellschaft.
Blickpunkt: Zu einer neuen Arbeitsgesellschaft gehört auch Gerechtigkeit. Ist es gerecht, wenn ein Millionär ein Grundeinkommen erhält?
Wiest: Der Millionär bekommt sein Grundeinkommen ja nicht monatlich auf sein Konto überwiesen. Das wird verrechnet. Aber wenn er vollkommen abstürzen würde, dann wüsste auch er: 1.500 Euro sind mir sicher. Und das finde ich gut.
Blickpunkt: Wo bleibt der Anreiz für Jugendliche, sich in Ausbildung und Beruf anzustrengen, wenn sie einigermaßen bequem vom Staat leben können?
Stöckel: Ich glaube, dass sich viele Jugendliche in der Tat nicht anstrengen würden, sich schulisch oder beruflich zu qualifizieren, wenn sie wissen, dass sie auch ohne jede Anstrengung 1.500 Euro auf ihrem Konto hätten. Mangelnde Motivation gerade bei Jugendlichen ist aber für eine Gesellschaft auf Dauer von großem Übel.
Wiest: Ich sehe das nicht so. Denn bei vielen Jugendlichen herrscht Angst, nicht richtig in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Bei einem Grundeinkommen würden sie sich nicht ausgegrenzt, sondern von der Gesellschaft mitgetragen fühlen. Und ich bin sicher, dass die meisten Jungendlichen sich ihren Interessen gemäß entwickeln würden. Denn der Mensch ist von sich aus neugierig, wissbegierig und möchte tätig sein.
Blickpunkt: Die Schere zwischen arm und reich hat sich in den letzten Jahren weiter geöffnet, was langfristig zu Verwerfungen führen kann. Wenn nicht das Grundeinkommen – was kann dann vor Armut und gesellschaftlichem Abstieg schützen?
Wiest: Für mich ist das Grundeinkommen die überzeugende und bestechende Idee, aber ich würde nie sagen, dass dies die einzige Möglichkeit ist, über die sich zu sprechen lohnt.
Stöckel: Armut und Benachteiligungen bestehen nicht nur aus dem monatlichen Einkommen, sondern werden häufig noch stärker geprägt vom Zugang zur Bildung und Qualifizierung. Hier muss der Staat ansetzen, zusätzlich zur Grundabsicherung. Und dass wir Mindestlöhne brauchen, ist für einen Sozialdemokraten eine bare Selbstverständlichkeit.
Blickpunkt: Kennen Sie, außer dem Paradies, ein Land, in dem ein auskömmliches Grundeinkommen bereits existiert?
Wiest: Es gibt ein Dorf in Namibia, wo das praktiziert wird und außerordentlich gut funktioniert.
Stöckel: In einigen Staaten der USA gibt es zwar kein bedingungsloses Grundeinkommen, aber eine Negativsteuer, die ähnlich wirkt. Allerdings auf ziemlich niedrigem Niveau, das wahrlich nicht armutsfest ist.
Das Gespräch führte
Sönke Petersen
Erschienen am 5. Mai 2009
Rolf Stöckel, Jahrgang 1957, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Der gelernte Diplomsozialarbeiter ist Vorstandsmitglied der SPD-Fraktion, Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales und Sprecher der Arbeitsgruppe „Verteilungsgerechtigkeit”.
Susanne Wiest, Jahrgang 1967, arbeitet in Greifswald als Tagesmutter. Ihre Petition beim Deutschen Bundestag zum bedingungslosen Grundeinkommen fand zwischen Dezember 2008 und Februar 2009 mehr als 50.000 Unterstützer – so viel wie nie zuvor bei dieser Form der Online-Unterzeichnung.