Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und Union sagten die Meinungsforscher bei den Bundestagswahlen 1965 voraus. Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik 1949 konnten die Sozialdemokraten darauf hoffen, mehr Wählerstimmen zu erringen als die Union. Mit Spannung wurde daher das Votum der Bürgerinnen und Bürger am 19. September erwartet: Würde sich Willy Brandt, der charismatische Kanzlerkandidat der SPD, gegen Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), den populären „Vater des Wirtschaftswunders“, durchsetzen können?
Die Bundestagswahlen 1965 bedeuteten einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik: Sie waren die ersten seit Adenauers unfreiwilligem Rückzug aus dem Kanzleramt. „Der Alte“ hatte zwei Jahre zuvor äußerst widerwillig die Amtsgeschäfte an Wirtschaftsminister Ludwig Erhard abgegeben, den „Vater des Wirtschaftswunders“ und Begründer der sozialen Marktwirtschaft, der sich in der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreute.
Doch Erhard trat kein leichtes Erbe an. 1962 hatte die „Spiegel-Affäre“ die Republik erschüttert, die die Union und allen voran ihre Führungsfiguren Adenauer und Franz Josef Strauß viel Prestige gekostet hatte. Adenauer machte aus seiner Abneigung gegen seinen Nachfolger kein Hehl, und auch in der Partei selbst war Erhard nicht wirklich verwurzelt. Hinzu kam, dass der neue Mann an der Spitze der Regierung vor allem in der Nahost- und Deutschlandpolitik nicht eben glücklich agierte.
Gute Aussichten also für die SPD, die schwarz-gelbe Regierungskoalition im Bund zu beenden, deren Fortsetzung erklärtes Ziel von Erhard war. Als Minimalziel hatte der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, der zum zweiten Mal als ihr Kanzlerkandidat antrat, das Erreichen der 40-Prozent-Marke ausgegeben. Selbstbewusst gingen die Sozialdemokraten davon aus, dass sie stärkste Fraktion im Bundestag würden und eine Regierungsbildung gegen sie nicht mehr möglich sein werde.
Dabei konnten sie sich auf die Prognosen der Meinungsforschungsinstitute stützen, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den zwei großen Parteien voraussagten. Das Emnid-Institut sah in seiner Umfrage vom Juli 1965 die SPD sogar vor der CDU.
Weiterer Vorteil für die Sozialdemokraten: Erstmals mischten sich Schriftsteller und Intellektuelle in einen Bundestagswahlkampf ein und bezogen zumeist für Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, Partei – sehr zum Ärger des amtierenden Bundeskanzlers. „Banausen und Nichtskönner“ seien das, schimpfte Erhard. „Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.“
Fehlte es dem Wahlkampf also nicht an verbalem Zündstoff, so war er inhaltlich eher enttäuschend. Über den Auftakt, für den sich beide Parteien die Dortmunder Westfalenhalle ausgesucht hatten, schrieb das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im August 1965: „Mit Feuerwerk und Bibi Johns, mit Alfred Hause und den vier Rondos begannen die Sozialdemokraten. Tenor: Fortschritt und Kühnheit garantieren die Zukunft. Eine Woche zuvor hatten die Christdemokraten mit sechs Reden in drei Stunden den Wahlkampf eröffnet. Tenor: Erfahrung und Stabilität sichern das Erreichte. Sonst gleichen sich Themen und Versprechungen der Wahlkämpfer wie ein Ei dem andern.“
Und auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ konstatierte nach der Wahl ernüchtert, die kontroversen Themen der Außen- und Deutschlandpolitik seien von den meisten Politikern im Wahlkampf ausgeklammert worden.
Wahrscheinlich war diese mangelnde inhaltliche Profilierung ein wesentlicher Grund, weshalb die Wähler keinen Anlass sahen, für einen Wechsel zu stimmen – zumal die Wirtschaft nach wie vor brummte. „Die Bundesrepublik im Zustand totaler Zufriedenheit hat sich für das Symbol ihres Wohlstandes entschieden“, schrieb der „Spiegel“ nach der Wahl leicht süffisant.
In konkreten Zahlen hieß das: Die Union erhielt 47,6 Prozent der Wählerstimmen und konnte im Vergleich zur letzten Wahl leicht zulegen, die SPD kam auf 39,3 Prozent und verbesserte ihr Ergebnis von 1961 deutlich. Herbe Verluste musste die FDP hinnehmen, der es nicht gelungen war, in der Koalition mit dem wirtschaftsliberalen CDU-Kanzler ihr eigenes Profil deutlich zu machen. Die Liberalen errangen lediglich 9,5 Prozent der Wählerstimmen – 3,3 Prozent weniger als vier Jahre zuvor. Für eine bürgerliche Regierungskoalition reichte es allemal.
Obwohl die SPD ihr bestes Wahlergebnis der Nachkriegszeit erreichte, war die Enttäuschung vor allem bei ihrem Vorsitzenden groß. Am Tag nach der Wahl gab Brandt bekannt, dass er 1969 nicht mehr als Kanzlerkandidat zur Verfügung stehe. Freunde befürchteten gar, dass er sich völlig aus der Politik zurückziehen werde. Soweit kam es nicht: Nach der Wahlniederlage kehrte Brandt ins Rathaus Schöneberg zurück.
Und schon ein Jahr später, als die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP zerbrach und Bundeskanzler Ludwig Erhardt ausgerechnet wegen einer – aus heutiger Sicht eher marginalen – Wirtschaftskrise zurücktreten musste, nutzte Brandt die Chance, sich wieder in die Bundespolitik einzumischen. Als sich Union und SPD im Dezember 1966 auf eine Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger, bis dahin Ministerpräsident von Baden-Württemberg, einigten, wurde Brandt Außenminister und Vizekanzler, bei der Bundestagswahl 1969 schaffte er dann den Sprung ins Kanzleramt.