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Mit der Troika gegen Kohl

Die Bundestagswahlen – Teil 13: 1994

SPD-Troika: Schröder, Lafontaine, Scharping
© dpa - Bildarchiv

Die Sozialdemokraten unter ihrem Führungstrio Scharping, Lafontaine und Schröder sind fest entschlossen, bei den Bundestagswahlen am 16. Oktober 1994 die Ära Kohl zu beenden. Die Chancen dafür stehen so gut wie lange nicht: Die schlechte Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit machen der bürgerlich-liberalen Koalition zu schaffen, vor allem die FDP schwächelt in der Wählergunst. Kommt nach zwölf Jahren der „Kanzlerwechsel“?

Es ist nur ein Wort, das auf dem Wahlplakat der SPD prangt: „Stark.“ Darunter die Konterfeis von Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder. Die Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Niedersachsen sollen die Sozialdemokraten in Bonn nach zwölf Jahre Opposition endlich zurück an die Macht bringen.

Dabei ist Scharping die Rolle des künftigen Bundeskanzlers zugedacht. Lafontaine soll Finanz- und Schröder Wirtschaftsminister werden. Das ungleiche Führungstrio, die so genannte Troika, versucht sich im Wahlkampf nach dem bewährten Musketier-Motto „Einer für alle, alle für einen“ zu präsentieren. Und lässt Erinnerungen wach werden an das legendäre sozialdemokratische Dreiergespann Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt. „Ein glückliches Ereignis“ nennt etwa Oskar Negt den späten Schulterschluss der einstigen innerparteilichen Rivalen um die SPD-Kanzlerkandidatur.

SPD mit dem Willen zur Macht

Hinter dieser überschwenglichen Einschätzung des Hannoveraner Philosophen stecke der Wunsch, dass „nun alles kommt, was Rudolf Scharping als Einzelkämpfer nicht im Angebot hatte“, analysiert die Wochenzeitung „Die Zeit“ wenige Wochen vor der Wahl: „Deutliche Opposition gegen Kohl, ein Gegenmodell zur Restauration, die Offensive gegen Schäubles nationale Phantasien und eine kulturelle Herausforderung an die Rechte. Die Sozialdemokratie will Machtwillen zeigen.“

Zwar lassen sich bereits vor der Wahl bei aller zur Schau getragenen Einigkeit die internen Spannungen in dem mühsam zusammengeschweißten Dreimännerbund mehr schlecht als recht überdecken. Dennoch stehen die Chancen Scharpings, Kohl zu beerben, nicht schlecht. Denn vier Jahre nach der Wiedervereinigung steht das Land vor großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Immer mehr zeigt sich nach der ersten Euphorie über Mauerfall und wiedergewonnener Einheit, dass die Folgekosten deutlich höher sein werden als von den meisten in der alten Bundesrepublik zunächst angenommen – und von der Regierung prognostiziert.

Fliegt die FDP aus dem Bundestag?

Auch in den neuen Bundesländern, wo die von Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ auf sich warten lassen, wächst die Enttäuschung über die bürgerlich-liberale Koalition in Bonn. Die Folge: Die SED-Nachfolgepartei PDS gewinnt im Osten an Zustimmung und rechnet sich gute Chancen aus, am 16. Oktober mindestens drei Direktmandate zu erringen.

Es sieht also alles andere als rosig aus für die Kohl-Regierung. Vor allem die Liberalen geben Anlass zur Sorge. Vereinzelte Umfragen sehen die FDP, der Kritiker vorwerfen, ihr Profil als Bürgerrechts- und Fortschrittspartei verloren zu haben, zwei Wochen vor der Wahl schon unter der Fünf-Prozent-Marke. Damit rückt das Ausscheiden des kleinen Koalitionspartners aus dem Bundestag in den Bereich des Denkbaren.

Umstrittene Wahlkampagne

Auf die schlechten Umfragewerte reagiert die Union mit der umstrittenen „Rote-Socken-Kampagne“, die eine mögliche Koalition aus SPD und PDS oder die Tolerierung einer rot-grünen Regierung durch die PDS unterstellt. „Auf in die Zukunft … aber nicht auf roten Socken“ heißt es auf Wahlplakaten der CDU, auf denen eine Wäscheleine zu sehen ist, an der an einer grünen Wäscheklammer eine rote Socke baumelt.

Ob diese Kampagne bei den Bürgerinnen und Bürgern verfängt, sei dahingestellt. Größere Hoffnung setzen die Regierungsparteien ohnehin auf die leichte konjunkturelle Erholung, die in den Monaten vor der Wahl spürbar wird und die sie als Erfolg ihrer Politik darzustellen versuchen.

Dramatische Wahlnacht

Am 16. Oktober scheint jedenfalls alles offen, der „Spiegel“ spricht sogar von der bis dahin „dramatischsten Wahlnacht“ in der Geschichte der Bundesrepublik. „Bis auf eine Stimme schnurrte die Kanzlermehrheit in den Hochrechnungen zusammen“, so das Hamburger Nachrichtenmagazin in seiner Ausgabe vom 17. Oktober 1994 über die Ereignisse am Abend zuvor.

Ganz so eng wird es am Ende dann doch nicht – nicht zuletzt dank der vielen Überhangmandate, die die Union bei dieser Wahl gewinnt. Insgesamt kommt sie auf 41,5 Prozent der Stimmen und fährt damit ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis seit 1949 ein. Doch gemeinsam mit der FDP, die sich mit 6,9 Prozent der Stimmen und dank einer massiven Zweitstimmen-Kampagne in den alten Bundesländern über die Fünf-Prozent-Hürde rettet, kann sie sich mit zehn Mandaten Vorsprung als Regierungskoalition behaupten.

Auf dem Weg zum Fünf-Parteien-System

Die SPD kommt auf 36,4 Prozent. Damit verbessert sie sich im Vergleich zu 1990 zwar um 2,9 Prozentpunkte. Und ihr Wunschpartner für ein Regierungsbündnis, Bündnis 90/Die Grünen, feiert mit 7,3 Prozent sogar einen großen Wahlsieg und löst die FDP, die herbe Verluste einfährt, als drittstärkste Fraktion im Bundestag ab. Dennoch reicht es nicht für Rot-Grün und den viel beschworenen „Kanzlerwechsel“.

Die PDS bleibt zwar bundesweit unter der Fünf-Prozent-Marke, zieht aber aufgrund von vier Direktmandaten, die die Partei im Ostteil Berlins erringen kann, mit 30 Abgeordneten in den Bundestag ein. Damit scheint sich die SED-Nachfolgepartei, die bereits bei den Wahlen 1990 den Einzug ins Parlament geschafft hat, dauerhaft als fünfte Kraft im bundesrepublikanischen Parteiensystem etabliert zu haben.

„So ist das Leben“

Geradezu symbolhaft dafür steht die Tatsache, dass am 10. November 1994 mit dem 81-jährigen ostdeutschen Schriftsteller Stefan Heym ein Politiker als Alterspräsident den zweiten gesamtdeutschen Bundestag eröffnet, der für die PDS ein Direktmandat gewonnen hat – und zwar in Berlin Mitte/Prenzlauer Berg. In der gleichen Sitzung wird die CDU-Politikerin Prof. Dr. Rita Süssmuth als Bundestagspräsidentin wiedergewählt.

Fünf Tage später stellt sich Bundeskanzler Kohl im Parlament zur Wiederwahl und erhält 338 von 671 Stimmen – eine äußerst knappe Mehrheit von fünf Stimmen. Was hatte er am Wahlabend für die vier kommenden Jahre seiner Kanzlerschaft prognostiziert? „Es wird schwer, aber so ist das Leben.“




Ausdruck aus dem Internet-Angebot des Deutschen Bundestages

www.bundestag.de/btg_wahl/wahlgeschichte/wahl1994/index.jsp

Stand: 14.09.2009