"Diese deutsch-deutsche Harmonie ist doch eine Fiktion…. Tatsache ist, dass die Deutschen einander nicht ausstehen können, Ossies und Wessies - das ist wie Hund und Katze!"
Dieses selbst im üblichen Lamento bemerkenswerte Urteil über die deutsch-deutsche Befindlichkeit stammt von einem unbestritten klugen Beobachter - und wurde vor zwanzig Jahren gefällt. Es war Hans Magnus Enzensberger, der den Deutschen diese Diagnose bereits 1987 stellte, also zwei Jahre vor den Ereignissen in der DDR, die erst 1990 zur deutschen Einheit führen sollten.
Im Epilog zu seiner Aufsatzsammlung "Ach Europa" entwarf Enzensberger - 1987! - ein fiktives Gespräch zwischen einem amerikanischen Reporter und einem britischen Korrespondenten über das wiedervereinigte Deutschland.
Staunend liest man dort folgenden Dialog: "Ich dachte, sie hätten sich zusammengerauft" - "Offiziell schon. Aber wenn Du ihre Deklarationen beim Wort nimmst, gerätst Du sofort in ein Unterholz von Komplexen, Rivalitäten und Ressentiments…. Wenn ich meine jungen Freunde hier über die jeweils andere Seite reden höre… Mit einem Wort: jeder von beiden fühlt sich über den andern weit erhaben" - "Und die berühmte Wiedervereinigung?" - "Außer Kaffee und Kuchen nichts gewesen".
Außer Kaffee und Kuchen nichts gewesen? Eben doch! Mit der Revolution der Ostdeutschen 1989 und mit dem 3. Oktober 1990 ist Wesentliches erreicht worden: Einigkeit und Recht und Freiheit. Aus diesem Bekenntnis unserer Nationalhymne, in einem Land, das mehr als vierzig Jahre lang geteilt war, wo Freiheit, Demokratie und Menschenrechte Millionen Menschen über Jahrzehnte verweigert worden waren, sind Gestaltungsprinzipien eines wiedervereinigten Staates geworden - einer tatsächlich "Deutschen Demokratischen Republik".
Jenseits der handfesten Interessen und Erwartungen, die zu Recht viele Deutsche mit der Wiedervereinigung verbunden haben, sind dies die eigentlichen, die nachhaltigen Errungenschaften des 3. Oktober 1990.
Einigkeit. Und Recht. Und Freiheit.
In der einseitigen Fixierung auf das Materielle, die wirtschaftlichen Unterschiede damals und heute, geraten zu oft diese einigenden Motive von 1989/90 aus den Augen. Sie wiederzuentdecken, heißt aber nicht, die Ökonomie geringzuschätzen. Im Gegenteil: Auch auf diesem Feld haben wir allen Grund, die große Aufbauleistung der Bürgerinnen und Bürger der vergangenen anderthalb Jahrzehnte in beiden Teilen Deutschlands zu würdigen. Nirgendwo sonst und nie zuvor hat ein Teil eines Landes einem anderen Teil in vergleichbarem Maße geholfen. Und jede Investition ist eine Investition in die gemeinsame Zukunft. Wenn ich empfehle, lieber öfter einmal die Mut machenden Erfolgsgeschichten zu erzählen, statt die unbestreitbaren Lasten zu beklagen, dann ist das nicht der "Tagesbefehl zum Glücklichsein", wie gerne eingewandt wird; es ist vielmehr der Hinweis auf die Wirklichkeit.
Die echten und die vermeintlichen Fehler im Einigungsprozess sind oft genug vorgetragen worden, die Erfolge, um die uns im Übrigen unsere Nachbarn beneiden, werden dagegen eher selten wahrgenommen.
Die deutsche Einheit als Erfolgsgeschichte zu sehen, heißt keineswegs blind für die noch immer zu bewältigenden Probleme zu sein. Dabei sollten wir uns aber wieder stärker bewusst machen, dass wir hier über die Hinterlassenschaften der Teilung und weniger über die Folgen der deutschen Einheit reden. "Ruinen schaffen ohne Waffen", spottete der Volksmund in der DDR über den deprimierenden Zustand vieler Städte in Zeiten der Teilung. Die aufwändige Wiederherstellung wertvoller alter Bausubstanz und die Wiedergeburt ganzer historischer Stadtquartiere ist ein grandioser Gewinn der Einheit. Auf dem ehemals völlig verseuchten Uranabbaugebiet Wismut in Thüringen findet in diesem Jahr die Bundesgartenschau statt. Zugegeben: Nicht überall blühen die Landschaften so eindrucksvoll, aber manche Veränderungen sind zweifellos spektakulär.
Der erzielte Fortschritt wird erst deutlich, wenn man die Entwicklung in den neuen Bundesländern vergleicht mit der Entwicklung, die osteuropäische Nachbarländer bei vergleichbarer politischer und wirtschaftlicher Ausgangslage im gleichen Zeitraum gemacht haben. Dort trübt aber der westliche Lebensstandard als innerstaatlicher Maßstab nicht den Blick für das bereits Geschaffene. Unsere Probleme möchten andere gerne haben - und die deutlich höhere Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer, ihre inzwischen beispielhafte Infrastruktur, die Kaufkraft und das Niveau der Sozialleistungen auch.
Der Aufbau Ost hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Regionen spürbar beschleunigt. Einige Städte und Kreise in den neuen Bundesländern konnten ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich steigern. Acht der zehn Städte und Kreise, die ihre Position in Deutschland am stärksten verbesserten, gehören zu den jungen Bundesländern. Mecklenburg-Vorpommern, das diesmal die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit ausrichtet, darf stolz darauf sein, dass Greifswald zum Aufsteiger des Jahres gekürt wurde.
Noch größer als die Fortschritte sind aber die Erwartungen - auch die politisch beförderten Erwartungen. Sie kommen nicht zuletzt in der unablässig und gerade zu Feiertagsanlässen gern bemühten Frage nach der "Vollendung der inneren Einheit" zum Ausdruck. Zu Recht wird darauf die Gegenfrage gestellt, was das denn sein soll: die vollendete Einheit? Ost und West, alles einheitlich, ein Herz und eine Seele? Diese Vorstellung ist genauso unhistorisch wie naiv. Nichts ist so gut, als dass es nicht noch verbesserungsfähig wäre. Aber Einheit heißt eben nicht Einheitlichkeit. Aus gutem Grund wurde 1994 mit der Neufassung von Artikel 72 Absatz 2 GG die Formulierung "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" durch "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" ersetzt. Damit wurde nicht nur gegenüber bloßem Erhalt und Sicherung in der Gegenwart ein in die Zukunft weisender dynamischer Prozess reklamiert. Es wurde auch zu Recht die Erwartung von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse relativiert. Einheitlichkeit gibt es nicht, weder im Osten noch im Westen - und natürlich auch nicht zwischen ihnen. Und ernsthaft betrachtet, wollen wir sie auch nicht.
Viele von Ihnen kennen das Bonmot, man habe im Osten geträumt, ins Paradies zu kommen, und sei in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Als Bochumer habe ich diesen Gegensatz nie so recht verstanden. Im Übrigen gilt für mich der weise Satz, dass sich das Paradies in der Regel erst dann als Paradies zu erkennen gibt, wenn wir daraus vertrieben wurden. Abseits der Hoffnung auf paradiesische Zustände ist aber längst eine differenzierte Betrachtung im Vergleich westdeutscher und ostdeutscher Bundesländer angebracht. Die Ausdifferenzierung strukturschwacher Regionen und Wachstumszentren ist jedenfalls längst kein allein ostdeutsches Phänomen mehr, und ist es wohl auch nie gewesen. Ostdeutschland ist nicht mehr der einheitliche Wirtschaftsraum, als der er lange betrachtet und behandelt wurde. Ebenso wenig übrigens wie Nord- oder Süddeutschland als geographische Zuordnung unterschiedlicher Bundesländer. Viele Kreise in Ost- und Westdeutschland haben heute vergleichbare Interessen und ähnliche Probleme. Aber sie haben eine andere Geschichte.
Nach einer aktuellen Umfrage haben 64 Prozent der Menschen in
den neuen Bundesländern eher positive und nur 17 Prozent eher
negative Erinnerungen an die DDR. Ich finde das einleuchtend.
Schließlich geht es dabei auch um die eigene Biographie.
Zugleich sagen aber 71 Prozent der Ostdeutschen ebenso klar, dass
sie Verhältnisse wie in der DDR auf keinen Fall
zurückhaben wollen. Auch dieser Befund zeigt: Das
Urteilsvermögen der Leute ist nicht weniger ausgeprägt
als ihr Erinnerungsvermögen.
Die Ostdeutschen wissen nur zu genau, was sie sich 1989 erkämpft haben: Dem Ruf nach Einheit - "Wir sind ein Volk" - ging der selbstbewusste Satz "Wir sind das Volk" voraus, zusammen war dies der Ruf nach Recht und Freiheit für alle Deutschen. Unsere tagespolitischen Auseinandersetzungen um die Lösung noch ausstehender ökonomischer und sozialer Aufgaben sollten den Blick auf diese Antriebskräfte von 1989/90 nicht verstellen.
Die rechtsstaatliche Ordnung der westdeutschen Demokratie übte eine solche Faszination aus, dass Tausende in den Jahren der Trennung ihr Leben aufs Spiel setzten, um die diktatorischen Grenzen zu überwinden und Freiheit zu erreichen. Weil Tausende seit der Teilung wegliefen - insgesamt mehr als 2,5 Millionen Menschen - wurde 1961 die Mauer gebaut, und weil 1989 Tausende wegliefen, musste die Mauer auch wieder geöffnet werden. Wohin sind sie nach der Maueröffnung aber gelaufen? In den Westen oder nach Deutschland? Diese gescheite Frage hat der Journalist Peter Bender, der sich seit vielen Jahren mit diesem Thema beschäftigt, erst kürzlich wieder gestellt: "Wären sie auch gelaufen", fragt er, "wenn hinter der Westgrenze der DDR Frankreich gelegen hätte? Sehr wahrscheinlich nur wenige. Wären sie gelaufen, wenn die Bundesrepublik ärmer gewesen wäre als die DDR und ebenso unfrei? Sehr wahrscheinlich nicht." Sie liefen und übersiedelten in immer größerer Zahl und entschieden sich später mehrheitlich für eine Vereinigung mit der Bundesrepublik, "weil sich der Westen in deutscher Gestalt darbot und Deutschland in westlicher Form." Mit anderen Worten: Wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, dass Einigkeit und Recht und Freiheit mehr bedeutet haben als ein unverbindliches Lippenbekenntnis, so haben die Deutschen zwischen Oder und Elbe diese Zweifel ausgeräumt.
Das, was die Ostdeutschen 1989 als Voraussetzung für die deutsche Einheit mit großem Mut und der Bereitschaft zum persönlichen Opfer vollbrachten, war eine politische Revolution für das Recht und für die Freiheit. Dies gilt es gegenüber der allzu einfachen, beinahe niedlichen Version von der "Wende" zu betonen. Während eine kluge Außenpolitik die deutsche Einheit in Frieden mit allen unseren Nachbarn herbeiführte, stellen uns die nachhaltigen Folgen einer vierzigjährigen Teilungszeit innenpolitisch noch immer vor große Herausforderungen. Manches ist im Einigungsprozess vielleicht zu früh geschehen, anderes passierte aus der Sicht von Betroffenen und kritischen Beobachtern zu spät - ein nicht wirklich überraschendes, eher wohl unvermeidliches Phänomen.
In der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Verbrechen hat der deutsche Rechtsstaat mit der für Opfer manchmal schwer erträglichen, aber konsequenten Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien seine Haltung und seine Stärke bewiesen. Zu den Erfahrungswerten gehört aber auch: Recht und Gerechtigkeit stehen in einem durchaus spannungsreichen Verhältnis. Die anhaltenden und unbedingt notwendigen Debatten um die angemessene gesellschaftliche Aufarbeitung der DDR-Verbrechen zeigen den beständigen Konflikt, dem unser Gerechtigkeitsgefühl gelegentlich ausgesetzt ist. Auch angesichts der unlängst in Kraft getretenen Opferrenten sollten wir uns selbstkritische Fragen stellen: Haben wir uns im wiedervereinigten Deutschland nicht zu lange mit den Tätern und zu wenig mit den Opfern beschäftigt? Ist der Eindruck gänzlich unberechtigt, das "Neue Deutschland", die demokratische Republik habe gegenüber den Opfern des Unrechts weniger Großzügigkeit aufgebracht als gegenüber den Tätern?
Unbestritten aber ist: Die Revolution von 1989 brachte mit dem Überwinden der DDR-Diktatur einen einzigartigen Fortschritt: das Menschenrecht auf Freiheit. Diese Bilanz entzieht sich jeder Frage nach der Höhe oder Aufrechenbarkeit der Kosten. Deshalb kann und sollte die Erinnerung an die Motive wie die Erfolge der Revolution von 1989 das Bewusstsein für den Wert der Freiheit stärken. Freiheit, vor allem und zuerst verstanden als die ganz persönliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, die Chance, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es nach eigenen Vorstellungen und auf eigene Verantwortung hin zu gestalten. Gerade sie bekommt jedoch hierzulande nicht immer die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Die sozialwissenschaftliche Forschung der letzten 15 Jahre hat sich jedenfalls damit nur wenig beschäftigt. Hingegen wurde zum Thema Gleichheit ein Vielfaches an Veröffentlichungen publiziert.
Die Forschungen zur deutschen Teilung und zum Einigungsprozess sind inzwischen kaum noch übersehbar, die publizierten Arbeiten gehen in die Tausende. Eine private Literaturdatenbank zur deutschen Wiedervereinigung wartet im Internet mit mehr als 52.000 Einträgen zur Online-Recherche über die deutsche Wiedervereinigung auf. Diese Aufarbeitung ist unbestreitbar wichtig, sie ersetzt allerdings weder die Aufklärung noch die Vermittlung der wesentlichen historischen Daten und Zusammenhänge. Wenn nach einer aktuellen Studie der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands heute fünf Prozent der deutschen Gymnasiasten Walter Ulbricht für einen oppositionellen Liedermacher der DDR halten und mehr als sieben Prozent in Erich Honecker den zweiten Bundeskanzler der Bundesrepublik sehen, dann ist das bei weitem nicht so komisch wie es sich anhört.
Man muss auch nicht die Bibliotheken konsultieren, um eine doch recht einseitig erscheinende Gewichtung im bisherigen Forschungsinteresse, vor allem aber eine unangemessene Fixierung auf das scheinbar unbekannte Wesen im Osten zu erkennen. Es reicht dazu ein einfacher Klick im Internet. Dort finden wir nicht weniger als 4,2 Millionen Einträge, die sich mit dem beschäftigen, was leider noch immer gemeinhin als ‚der’ "Ossi" bezeichnet wird, aber kaum über 200.000 Einträge zu seinem Landsmann im Westen. Offensichtlich haben viele Beobachter bis heute nicht wahrgenommen, dass nicht nur der Westen den Osten verändert hat. Die zwölfjährige Schulausbildung bis zum Abitur zum Beispiel, die in westlichen Bundesländern als Voraussetzung für den Hochschulzugang zunächst gar nicht anerkannt werden sollte, ist inzwischen gesamtdeutscher Standard.
In der Einigkeit über die Leitprinzipien Recht und
Freiheit, im Konsens über den freiheitlichen und
demokratischen Rechtsstaat, liegt der eigentliche Kern der viel
beschworenen "inneren Einheit" Deutschlands. "Vollendet" muss und
kann sie nicht sein. Aber sie ist Wirklichkeit geworden. Dies
allein ist mehr, als ganze Generationen gehofft oder geglaubt
haben. Es gehört zu den merkwürdigen Begabungen der
Deutschen, dass sie Ereignisse und Entwicklungen, die sie
jahrzehntelang für nahezu ausgeschlossen gehalten haben, von
dem Augenblick an, in dem sie gleichwohl Realität geworden
sind, für eine schiere Selbstverständlichkeit
halten.
Einheit muss wachsen. Sich vereinen, heißt teilen lernen. Dieses nur scheinbare Paradoxon, mit dem Richard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 den Weg zur inneren Einheit beschrieb, hat nichts von seiner Bedeutung und Richtigkeit verloren. Und die Deutschen zeigen seit Jahren eine sicher nicht immer als schmerzfrei empfundene, im Prinzip aber doch ungebrochene, auch finanzielle Solidarität. Die Teilung überwinden, heißt teilen lernen: dieser anhaltende Lernprozess wird aber auch ganz wesentlich - und heute mehr denn je - als Anliegen verstanden, die Erinnerungen miteinander zu teilen. Strukturen, so gut sie wissenschaftlich aufgearbeitet sind, erklären nicht alles. Gelebtes Leben geht weder in Anekdoten auf noch in wie gut auch immer recherchierten Reportagen, es will erzählt werden, wenn es verstanden werden soll. Die Politik verfügt dabei nur über begrenzte Mittel, sie kann aber und sie sollte dazu Anstöße geben. Ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin wäre ein wichtiger Beitrag, der längst überfällig ist. Wir haben aus gutem Grund insbesondere in der Hauptstadt zahlreiche auffällige Stätten der Erinnerung an die Verbrechen zweier Diktaturen in Deutschland, es gibt keinen vernünftigen Grund, nicht auch in ähnlich demonstrativer Weise der Freiheits- und Einheitsgeschichte der Deutschen zu gedenken. Sie ist für das Selbstverständnis und das Selbstbewußtsein unseres Landes gewiß nicht weniger wichtig. Und spätestens zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer und der Wiedervereinigung könnte und sollte ein solches Denkmal stehen. Es wäre vor allem zugleich eine notwendige Ermunterung zu einer breiten öffentlichen Debatte über den Wert von Einigkeit und Recht und Freiheit heute - und nicht zuletzt Ausdruck eines über wirtschaftliche Konjunkturen und auch über Moden hinweg tragenden aufgeklärten Patriotismus, wie er uns in seiner ansteckend fröhlichen Form während der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr begegnete, genährt von der stolzen Erinnerung an eine gelungene friedliche Revolution und getragen vom Grundakkord unserer Verfassung: Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat. Und Kulturstaat, selbstverständlich.
Meine Damen und Herren, es gibt zu unserem Nationalfeiertag eine aufschlussreiche Geschichte, die von einer französischen Journalistin zum zehnten Jahrestag der deutschen Einheit berichtet wurde. Was sie selbst damals geradezu fassungslos registrierte, wird uns heute, Jahre später, leider noch immer nicht gänzlich überraschen. Die Französin hatte sich tags zuvor von einem deutschen Ladenverkäufer nicht mit einem einfachen "Auf Wiedersehen" verabschiedet sondern gesagt: "Ich wünsche Ihnen morgen einen schönen Nationalfeiertag" - und danach das Gefühl gewonnen, sie hätte etwas Unanständiges, jedenfalls Unpassendes gesagt. Der 3. Oktober ist aber ein Tag der Freude und ein Anlass zum Feiern - mithin also auch ein Grund für Kaffee und Kuchen.
Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Einheit in Freiheit vollendet. Es war mehr als der formale Akt des Beitritts neuer Bundesländer aus der damaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Es war der erfolgreiche Abschluss einer beispiellosen Entwicklung, eine gewaltfreie Revolution, die dennoch oder gerade deshalb die Verhältnisse nicht nur im eigenen Land grundlegend veränderte - ein historischer Einschnitt, für Deutschland und für das freie Europa. Daran sollten wir uns gerade in diesem Jahr erinnern, in dem der ersten Manifestationen des Freiheits- und Einheitswillens der Deutschen gedacht wird: 1817 auf der Wartburg, 1832, vor 175 Jahren, auf dem Hambacher Schloss. Kein Jahrzehnt später gab Hoffmann von Fallersleben mit der dritten Strophe seines Lieds der Deutschen die Losung aus, die für Generationen bloße Wunschvorstellung blieb: Einigkeit und Recht und Freiheit. Sie wurde zum Bekenntnis für ein demokratisches Deutschland, das es damals noch nicht gab, und sie ist zum Gestaltungsprinzip eines vereinten, freien und demokratischen Landes geworden, im Frieden mit allen seinen Nachbarn, mit ihnen verbunden in einer Gemeinschaft europäischer Staaten.
Größeres Glück hatten die Deutschen in ihrer Geschichte nie. Aus diesem Glück kann Einheit wachsen.