Alltag in Israel
Über die schillernde Vielfalt eines multiethnischen Landes - und seine Konflikte
Die Geschichte des alten Mannes rührt einen an: Schon als Kind wusste er, dass Galizien sein Zuhause, niemals aber seine Heimat sein kann. Mit gerade einmal zwölf Jahren schloss er sich der zionistischen Jugend an und begann, seine Auswanderung vorzubereiten. Mit 19 war es soweit. Seither lebt er in dem Land, das damals noch Palästina hieß - als einer, der "gekommen ist, um das Land zu bebauen und Erez Israel fruchtbar zu machen". Heute, mit 101 Jahren, am Ende eines langen und bewegten Lebens, bereut er keine Sekunde, die Fahrt über das Meer damals, lange vor dem Zweiten Weltkrieg angetreten zu haben. Weil, sagt er, "unser Erez Israel ein Wunder ist, so einfach ist das". Aber auch, weil es ihm das Leben gerettet hat; anders als seiner Familie, von der niemand nachgekommen ist, "bis es zu spät war". Elijahu Amitzur hat das Land nie wieder verlassen, 82 Jahre lang. Er habe es nicht gewollt, sagt er, "2.000 Jahre haben wir Juden auf die Rückkehr in unsere Heimat gewartet. Und da soll ich sie nach ein paar Jahren wieder verlassen?" Der den 101-Jährigen kurz vor seinem Tod getroffen und interviewt hat, ist Michael Borgstede, deutscher Journalist in Tel Aviv. Elijahu Amitzur ist der erste einer ganzen Reihe von Menschen, die Borgstede in seinem Erstlingswerk "Leben in Israel - Alltag im Ausnahmezustand" porträtiert und zu Wort kommen lässt.
Fernab des Nahost-Konfliktes und den täglichen Auseinandersetzungen an und um die israelisch-palästinensischen Grenzen hat der mit einer Israelin verheiratete Autor entschieden, jenseits des journalistischen und politischen Alltags zu schreiben. Ein ganz normales Buch sozusagen, über ganz normale Menschen, die in Israel leben und lieben, studieren und arbeiten und darüber, wie vielfältig, man könnte auch sagen, multiethnisch, das Land ist. Jeder Dritte, der in Israel lebt, wurde nicht dort geboren - eine Zahl, an die selbst Städte wie Berlin oder Frankfurt nicht heranreichen. Nah an den Menschen lässt Borgstede ein schillerndes Panorama eines schillernden Landes entstehen: Er trifft alteingesessene Zionisten und Orthodoxe ebenso wie russische und US-amerikanische Zuzügler, moldawische Zwangsprostituierte und sudanesischen Flüchtlinge, arabische Israelis und Holocaust-Opfer. Der 1976 geborene Autor verarbeitet all diese Begegnungen in nicht immer fröhlichen, aber erfrischenden Worten. Seine Schreibweise lässt einen geradezu aufatmen: Da ist einer, der Menschen so sein lässt, wie sie sind, der zum Nahen Osten keine steile These vertritt, sondern einfach nur hinschaut. Dabei ist er nicht unkritisch; zum Beispiel, wenn es um den Umgang der israelischen Regierung mit der arabischen Minderheit oder den Holocaust-Opfern geht.
Aber Israel ist nun einmal Israel, und so fragt sich, wer das Buch liest, auch unwillkürlich: Kommt es dem israelischen Gründungsmythos der Besiedlung und Urbarmachung eines wüstigen Landes nicht sehr nahe, nur die zu beschreiben, die Israel ihr Zuhause nennen - und nahezu kein Wort über mehrere hunderttausend Palästinenser zu verlieren, die mit der Ankunft der Zionisten von dort flüchteten oder vertrieben wurden?
Nein, würde vermutlich Igal Avidan sagen, der in mancher Hinsicht so etwas wie der Counterpart von Michael Borgstede ist: Borgstede ist Deutscher und lebt in Israel; Avidan ist Israeli und lebt in Deutschland. Auch er hat sich kurz vor dem 60. Jahrestag der Staatsgründung auf den Weg gemacht, ein Porträt des Landes zu zeichnen. "Israel. Ein Staat sucht sich selbst," heißt sein Buch - was sich schon im Titel nicht allzu sehr von Borgstedes "Leben in Israel - Alltag im Ausnahmezustand" unterscheidet.
Avidan allerdings steht seinem Land nach nahezu 20 Jahren in Deutschland mit einer äußeren Distanz gegenüber - ohnehin gilt er als ausgesprochen kritischer Journalist. Und so braucht er auch in seinem Debütroman nicht lange, um seine Position zu erklären - und bringt wohl schon zu Beginn einen Teil der Leserschaft gegen sich auf, wenn er auch diese Fakten auflistet: 700.000 Palästinenser wurden 1948 vertrieben, weitere 250.000 im Sechs-Tage-Krieg von 1967. Heute betreut das UN-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge 4,4 Millionen Menschen. Das erste Porträt, das Avidan an diese Beschreibung anschließt, heißt "Eine unbequeme Erinnerung".
Es beschreibt den israelischen Aktivisten Eytan Bronstein, der während der zweiten Intifada im Jahr 2000 entdeckte, dass dort, wo er seine glückliche Kindheit im Kibbuz verbracht hatte, bis 1948 2.000 Palästinenser in einem Dorf gelebt hatten. Mehrere Jahre kämpfte Bronstein dafür, an den Orten ehemaliger Dörfer Informationstafeln aufzustellen. Als es ihm in zwei Ausnahmefällen erlaubt wird, streichen die Behörden vorher folgenden Satz aus dem Textentwurf: "Das Dorf wurde im Krieg von 1967 zerstört, als die israelische Armee die Kontrolle über das Gebiet übernahm." Die Schilder wurden aufgestellt - drei Wochen später aber wieder herausgerissen und übermalt. Auch das ist Alltag im Ausnahmezustand.
"Der palästinensische Traum der Rückkehr ist der israelische Albtraum," schreibt Avidan - um durch sein gesamtes Buch immer wieder zu pendeln zwischen "denjenigen, die einen Staat haben und denjenigen, die einen Traum pflegen". Jene, die einen Traum pflegen, trifft Avidan immer wieder und nutzt sie als Mittel, auf die untragbare Lage der Palästinenser im Gelobten Land hinzuweisen: an dem Trennungszaun zum Beispiel, der aus völkerrechtlichen Gründen nicht Grenze heißen darf und den Palästinenser gegen sich selbst errichten - nicht, weil sie sich einsperren wollen, sondern weil sie das Geld brauchen. Auch arabische Israelis, die jahrelang darum kämpften, in ein von jüdischen Israelis bewohntes Dorf ziehen zu dürfen, hat Avidan begleitet und porträtiert.
Was das innere Israel betrifft, liefern beide Bücher vor allem jenen, die nicht regelmäßig dort zu Gast sind, spannende Einsichten - und einen plastischen Eindruck von dem alltäglichen Leben, das auch dort möglich ist. Beide Bücher verbinden menschliche mit politischer Geschichte. Beide erinnern an vergangene Zeiten der israelischen Geschichte: an die Aufbruchstimmung in den Kibbuzim, an Zionisten der ersten Stunde, die, was man heute gern vergisst, fernab religiöser Ideen waren.
Beide thematisieren den Konflikt zwischen den Orthodoxen und den säkularen Israelis und beschreiben ihr Verhältnis als wenig Mut machend. "Wir gehören zur oberen Mittelklasse und zahlen horrende Steuern, damit Leute wie dieser Meierson nicht arbeiten müssen," sagt ein Rechtsanwalt, den Michael Borgstede in Jerusalem trifft. Dieser Meierson, einer der 700.000 Ultraorthodoxen im Land, sagt: "Ich weiß, die Säkularen hassen mich, dabei bete ich jeden Tag für das Wohl aller Juden." Dass sie ihn hassen, weiß er aus den Medien, wobei unklar bleibt aus welchen: Es gibt keinen Fernseher und keine Zeitungen in seiner Familie, "damit der böse Geist nicht Einzug hält". Dass die Meiersons keine Ausnahme sind und wegen der höheren Geburtenrate erst recht nicht bleiben werden, wird auch mehr als deutlich: Nahezu jedes vierte Kind wird inzwischen in einer orthodoxen Schule eingeschult. Auf ihre Lehrpläne traut sich das Bildungsministerium so gut wie keinen Einfluss zu nehmen.
Daneben aber gibt es auch die anderen, die dem Rest der Welt wesentlich vertrauter sind: Partyverrückte Jugendliche, aufgeweckte und kreative Studierende, talentierte Nachwuchsingenieure. Kurz: eine Generation, die im Krieg aufgewachsen ist, ihn so selbstverständlich erlebt, wie andere die Nachbarn im Reihenhaus, und von der sich schwer sagen lässt, welche Auswirkungen das auf ihre Gemütslage und ihre Zukunftsperspektive haben wird. Ist es beruhigend oder erschütternd, wenn eine Studentin sagt: "Frieden wäre schon nicht schlecht? Aber eine gute Note im Diplom ist mir im Moment wichtiger." Wahrscheinlich ist es einfach ganz normal.
Ein erschütterndes Licht werfen beide Bücher, das des Israelis allerdings detaillierter als das des Deutschen, auf die Lage der Überlebenden des Holocaust. Seit einigen Jahren macht die israelische Presse verstärkt auf das Schicksal hungernder und verarmter Überlebender im eigenen Land aufmerksam. Nach Schätzungen muss jeder dritte von 250.000 noch in Israel lebenden Opfern des Nationalsozialismus mit weniger als 330 Euro im Monat auskommen und lebt unterhalb der israelischen Armutsgrenze. "Das kollektive Andenken in Israel," kommentiert Igal Avidan, "gilt den Ermordeten, nicht den Überlebenden des Holocaust."
Israel. Ein Staat sucht sich selbst.
Diederichs, München 2008; 255 S., 19,90 ¤
Leben in Israel. Alltag im Ausnahmezustand.
Herbig Verlag, München 2008; 255 S., 19,90 ¤